Vier gewinnt
Der Preis der Nationalgalerie 2021

22. September 2021 • Text von

Schiffbruch, Baustellenoase, Clubatmosphäre und Laborraum: Die Auswahl der Kandidat*innen des diesjährigen Preis der Nationalgalerie ist ein weiteres Mal äußerst divers. Thematisch und medial verschieden, präsentieren die Installationen vielseitige Erfahrungsräume und richten die Aufmerksamkeit auf zuweilen konträre Fragestellungen. Der Besuch schafft Freude, Nachdenken – und Neugierde. 

Das Bild zeigt die vier Kandidat*innen des Preis der Nationalgalerie 2021, Calla Henkel, Sung Tieu, Max Pitegoff, Sandra Mujinga und Kamin Fofana.
v.l.n.r.: Sung Tieu, Calla Henkel, Max Pitegoff, Sandra Mujinga, Lamin Fofana, Foto: Calla Henkel & Max Pitegoff.

Schiffbruch, scheinbar. Grünes Licht, eine Figur aus Stoffstücken, der Form nach eine Mischung aus Samurai, Dementor und Mumie. Aber diese Figur ist friedlich. Abwartend-offen steht sie im Raum. Links neben der Figur steht ein längliches Gerüst aus dunklem Metall, auch hier stellenweise eine gewebte Struktur aus Stoffstücken darübergelegt. Brandruine, Stahlzelt, Schiffswrack. Im Raum dahinter drei weitere Figuren, sie sind ausgerichtet und scheinen ein gemeinsames Ziel zu haben. Während die Figuren von hinten annähernd realistisch erscheinen, ist ihre Vorderseite stark abstrahiert. Große Stoffbahnen sind wie Schleier über die Kopfpartien gelegt. Warum diese Bedeckung; Trauer, Krankheit, Strafe, Scham? Das grüne Licht erzeugt eine ambivalente Atmosphäre, nicht bedrohlich, aber doch unheimlich gespannt.

Sandra Mujinga beschreibt ihre künstlerische Praxis als Weltenerschaffen, “worldbuiling”. Ihre Installation in der Nationalgalerie aus den Arbeiten “Senticles of Change” und “Reworlding Remains” sieht sie als eine Fortführung dieses Weltenbildens, mit Referenzen auf Science Fiction und Afro Futurismus. Im Zentrum stehen die Begriffe des Erschaffens, des Verfalls und des Übergangs. Die große Struktur im ersten Raum sieht Sandra Mujinga als einen Dinosaurier, die Figuren sind Geister, welche aus einem Transformationsprozess des Dinosauriers in eine andere Existenz hervorgehen. Die unartikulierten Häupter der Figuren verdeutlichen dieses Übergangsstadium. Eine weitere Kernidee der Installation ist jene der Gemeinschaft, “companionship”. Die einheitliche Kleidung aus zusammengewebten Stoffstücken, die gemeinsame Ausrichtung auf ein Ziel – Weltenerschaffen bedarf der Gemeinsamkeit.

Das Bild zeigt die Installation Sandra Mujingas in der Ausstellung des Preis der Nationalgalerie 2021 im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst in Berlin.
Sandra Mujinga, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin 2021, © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Mathias Völzke.

Szenenwechsel total. Der von Calla Henkel und Max Pitegoff bespielte Raum zeigt elf Fotografien und drei wie Markisen anmutende Planen, auf welchen Ansichten von Außen- beziehungsweise Innenwohnräumen zu sehen sind. Die Szenen sind unmittelbar einladend, bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch: Es handelt sich um Fotoreproduktionen von Baustellenplanen, welche das unschöne Geschehen im Hintergrund verbergen sollen. Die Fotografien an den Wänden zeigen Ausschnitte von Wasseroberflächen, Meer, Seen, möglicherweise Pfützen, ein nach unten ziehender Strudel. Die Spiegelungen auf den Wasseroberflächen haben eine unmittelbare Wirkung und verbreiten eine beruhigende, fast idyllische Atmosphäre. Original gegen Fake? Im zweiten der von den Künstler*innen gestalteten Raum ist vor einem Sammelsurium an Stühlen und Barhockern jeweils ein Trailer zu der von den Künstler*innen gedrehten Fernsehserie “Paradise” zu sehen. Parallel zu der Ausstellung werden die Episoden I und II der Serie in Berliner Etablissements gezeigt. Die Stühle sind Leihgaben aus den jeweiligen Veranstaltungsorten, das bunte Miteinander versprüht eine sympathisch-liberale Ordnung.

Der Ausgangspunkt der Arbeiten von Calla Henkel und Max Pitegoff ist die “singular fantasy of the city”, und die Frage, wie eine kollektive Infrastruktur erzeugt werden kann. Angesichts der sich wandelnden Stadt Berlin thematisieren die Künstler*innen Versorgungs- und Lieferketten, Arbeitsbedingungen, und Fragen nach der – künstlerischen – Performance und Arbeit in der Stadt. Dem Wasser kommt hier eine symbolische Bedeutung zu: Die Fotografien der Wasseroberflächen stammen aus dem Klärwerk Ruhleben. Das idyllisch anmutende Wasser befindet sich in einem Prozess der Wasser-Werdung und verweist damit zeitgleich auf neo-liberale Fantasien der Veredelung und Ideen der Kollektivität und Transformation. Wunsch, Realität und Möglichkeit liegen nebeneinander.

Das Bild zeigt die Installation Calla Henkels und Max Pitegoff in der Ausstellung des Preis der Nationalgalerie 2021 im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst in Berlin.
Calla Henkel & Max Pitegoff, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin 2021, © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Mathias Völzke.

Erneuter Szenenwechsel: Nach grünem und klar weißem Licht in den Räumen zuvor, ist der erste Raum Lamin Fofanas in tief blaues Licht getaucht. Bereits vor Betreten werden die Rezipient*innen durch eine intensive Soundkulisse aus Basstönen, Rauschen und Tiergeräuschen empfangen. Was geht hier vor? In dem Raum befinden sich zwei Fotografien, seitlich davon eine vorgezogene Wand, hinter welcher zwei Raumpflanzen und ein mit Duft versehener Luftbefeuchter hervortreten, vor der Wand auf dem Boden zwei schmale Lautsprecher. Eine Fotografie zeigt den mit Blue Jeans und geöffnetem Hemd bekleideten Torso eines Mannes mit schwarzer Hautfarbe. An seiner Rechten scheint eine Art Seil herunter zu hängen, das Geschehen ist ästhetisch-abstrakt. Die zweite Fotografie zeigt eine Art Laubengang, der Boden ist staubig, im Gang spiegeln sich Sonnenstrahlen im Nebel, links des Ganges ist eine hohe Mauer zu sehen, rechts eine offene Ebene. Assoziationen zu Hölle und Paradies, das Rauschen und Tiergeschrei sowie die Raumpflanzen greifen die Atmosphäre des Bildes auf, oder vice versa. 

Von diesem ersten Raum gehen zwei weitere ab, einer davon in stark rotem, ein anderer in tiefschwarzem Licht. In beiden Räumen ist jeweils eine Videoarbeit zu sehen: Nahaufnahmen von Wasser, Bäumen, Pflanzen, Körpern, Skulpturen. Temporäre Referenzen an Darth Vader und die Ringgeister. Die Bilder vermitteln Ruhe, Ambivalenz, Geheimnisfülle – Weltabstand. Die mit Duft versehenen Luftbefeuchter fügen der audio-visuellen Erfahrung eine weitere Ebene hinzu. Lamin Fofana erörtert in seinen Arbeiten Themen der Bewegung, Migration, Entfremdung und Zugehörigkeit. Ausgangs- und Mittelpunkt bildet ein Schwarzes kritisches Denken und dessen Bezug auf die gegenwärtige Realität. Die Abstraktion und Ästhetisierung sowie die Verbindung verschiedener Kontexte – Natur, Kunst, Körper – in den Fotografien und Videos schafft neue Erfahrungsräume. Das Zusammenspiel von Sound, Duft, und Bild propagiert ein nicht-lineares Erleben und eine Öffnung zum Unbekannten.

Das Bild zeigt die Installation Lamin Fofanas in der Ausstellung des Preis der Nationalgalerie 2021 im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst in Berlin.
Lamin Fofana, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin 2021, © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Mathias Völzke.

Vierter Streich: Hinter einem weißen Vorhang ein steriler non-Raum in Weiß. Ein Wandhocker und drei leere Regalböden aus Stahl geben einen Empfangscharakter. Auch hier ist ein starker Sound zu vernehmen, allerdings ist unklar, wo jener der vorherigen Installation aufhört und die Geräusche der neuen Präsentation beginnen. Vor dem Betreten des Folgeraumes erfolgt die Aufforderung zum Ausziehen der Schuhe, aka weißer Teppichboden; dafür also Hocker und Regal. Sidenote: Meine Stella McCartneys machen sich hervorragend in der schlichten Stahlkonstruktion. Im Hauptraum befindet sich eine abgetrennte Mittelpartie aus drei Wandelementen. An den Raumwänden befinden sich 67 gleichformatige Papiere mit Grafiken und Listen: “Anreise vietnamesischer Werktaetiger (Einsatzbetriebe)”, darunter tabellarisch: “Datum”, “FlugNr.”, “Min.”, “Betrieb”, “Wt Soll”, “Wt Ist”. Weitere Zeilen geben die Namen Ostdeutscher Betriebe: Vereinigte Hemdenbetriebe Auerbach, Feinstrumpfwerke Oberlugwitz, Waescheunion Elsterberg. Der “Wert Ist” changiert in den verschiedenen Grafiken zwischen 0 und Zahlen im Hunderter Bereich. Der nach hinten abgeschlossene Mittelbereich beherbergt acht graue Kassettenrecorder mit Radioempfang, 1980er Jahrgänge, die jeweils zwei Antennen sind ästhetisch-frech in die Höhe gestreckt. Die Geräuschkulisse verbindet elektronische Sounds mit Metallgeklapper und -geraschel. Die Innenwände der Mittelpartie sind mit polierten und matten Stahlplatten ausgeschmückt und formen ein materielles Echo der Soundebenen, wodurch ein scheinbarer Kreislauf zwischen Material und Ton entsteht. Perpetuum aus Stahl, die Stimmung wechselt zwischen Entspannung und Stress, Referenzen auf den Arbeitsakkord. 

Das Bild zeigt die Installation Sung Tieus in der Ausstellung des Preis der Nationalgalerie 2021 im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst in Berlin.
Sung Tieu, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin 2021, © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Mathias Völzke.

Die Installation “Song for VEB Stern-Radio Berlin” der Künstlerin Sung Tieu thematisiert die Geschichte vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen in der DDR. Selbst in Vietnam geboren, beschäftigt sich die Künstlerin in ihrer Praxis mit psychologischen Folgen des Lebens in der Diaspora und den Auswirkungen des Kalten Krieges auf den modernen Kapitalismus. Die in der Installation verwendeten Radios sind von Vertragsarbeiter*innen hergestellte Originale, die Listen an den Wänden Kopien von Archivmaterial. In der künstlich erzeugten Raumpräsentation entsteht eine entrückte, fast fiktive Atmosphäre, welche zugleich Distanz und Nähe zum thematischen Kontext erzeugt. An den Außenwänden der Mittelpartie sind Schokoladenmarienkäfer in Glitzerpapier angebracht. Zunächst unscheinbar bilden sie das einzige Farb- und Lebenszeichen in der sterilen Ordnung. 

Vier sehr verschiedene Präsentationen, persönliche Favoriten sollen an dieser Stelle außen vor bleiben. Thematisch, medial und in Bezug auf den künstlerischen Ausgangspunkt zeigt sich die Kandidat*innen-Auswahl sehr offen und divers und gibt einen interessanten Überblick in verschiedene Praktiken der zeitgenössischen Kunst. Ob traditionellere Medien wie Malerei und Skulptur bewusst oder zufällig nicht erscheinen, bleibt vorerst spekulativ. 

WANN: Die Ausstellung „Preis der Nationalgalerie 2021“ ist noch bis zum 27. Februar 2022 zu sehen. Der/die Sieger*innen werden am Donnerstag, den 7. Oktober, bekannt gegeben.
WO: Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst – Berlin, Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin.

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