Utopien mit Seeblick Die Stadt Lindau hat jetzt eine eigene Biennale
13. Juni 2022 • Text von Lisa Stoiber
Unter dem Titel “In Situ Paradise” geht die Lindau Biennale dieses Jahr in die erste Runde. Gemeinsam mit ihren Bewohner*innen macht sich die Stadt im Sommer auf die Suche nach dem irdischen Paradies. Eine Erkundungstour am blauen Bodensee führt zu utopischen Interventionen zwischen touristischem Treiben und Alltagsrealität.
Utopien sind unerfüllbare Idealzustände oder illusorische Sehnsuchtsorte fernab der Realität. Auch wenn sie unerreichbar sind, können sich in paradiesischen Weltentwürfen zukunftsbildende Chancen manifestieren. Doch wie nahe können wir uns an diesen Idealzustand hier im Diesseits herantasten? Und welchen Herausforderungen müssen wir uns dafür stellen? Das idyllische Lindau scheint die optimale Kulisse für diese Ausgangsfragen zu sein, denn die Stadt liegt auf einer Insel im strahlend blauen Bodensee, umgeben von einem weiten Alpenpanorama. Unter der künstlerischen Leitung der Kuratorin Sophie-Charlotte Bombeck wurden zwanzig Künstler*innen aus ganz Deutschland dazu eingeladen, hier ihre subjektiven Utopien zu realisieren, darunter Maria Anwander, Lea Grebe, Dana Greiner, Olga Golos, Julia Klemm, Jaemin Lee, Toshihiko Mitsuya, Patrick Ostrowsky, das Künstler*innenduo Pfeifer & Kreutzer und Camill von Egloffstein.
Alle künstlerischen Interventionen entstehen “in situ“, also unmittelbar im urbanen Raum und angepasst an die bestehenden lokalen Bedingungen. Daraus ergeben sich spannungsvolle Berührungspunkte zwischen der Stadt, ihrer Infrastruktur, ihrer Geschichte und ihren Bewohner*innen. Manchmal sind es unübersehbare Installationen und manchmal minimale Eingriffe mit gleichsam irritierender Wirkung, wie beispielsweise die Arbeit “Frames“ der Künstlerin Olga Golos. Ihre knallgelben, polygonalen Rahmen sind im ganzen Stadtraum verteilt zu finden. Beim Blick durch sie hindurch ergeben sich neue Sichtachsen auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Sie erinnern daran, dass die Reise in eine fremden Stadt niemals eine unvoreingenommene ist, sondern davon geprägt wird, was Sightseeing Broschüren und Reiseplattformen als “sehenswert” oder “besuchenswert” definieren.
In einer grünen Wiese “pflanzte“ Toshihiko Mitsuya seinen “Aluminium Garden“, der sich aus 100 künstlichen Blumen aus glänzendem Aluminium zusammensetzt. Mitsuyas organische Formen sind der hiesigen Botanik nachempfunden. Der in Berlin lebende Künstler verweist in dieser Installation auf die notwendige Symbiose zwischen immer schneller wachsenden Städten und der Natur, die immer weiter vom Menschen zurückgedrängt wird. Im grünen Gras platziert, passen sich diese futuristisch anmutenden Pflanzen ihrer neuen Umgebung an. Ähnlich ihrer natürlichen Vorlagen bewegen sich ihre Blätter im Wind, während ihre metallenen Oberflächen die Sonne reflektieren und sich grell leuchtend schon aus weiter Entfernung ankündigen.
Beim Spazieren an der langen Uferpromenade entlang, vorbei an Strandbars und Grünanlagen, gelangen die Besucher*innen zum Hafen der Stadt, der als eine der Hauptattraktionen in Lindau gilt. Segelboote und Yachten haben hier angelegt, Souvenirshops bieten kleine Mitbringsel zum Kauf an und ein Duft aus Sonnencreme und Pommes liegt in der Luft. Von hier aus führt ein Steg über das Wasser zum “Lindauer Löwen“, dem Wahrzeichen der Stadt.
Herrschaftlich blickt das steinerne Denkmal wohl normalweise von seinem hohen Sockel auf die Menschen herab, die sich auf dem Steg tummeln, um den Ausblick zu genießen und Erinnerungsfotos zu schießen. Seit ein paar Wochen jedoch wird der Löwe von Kopf bis Pfote von einem netzartigen Gebilde aus knallig roten Fahnen bedeckt. Dabei handelt es sich um eine temporäre Intervention von Julia Klemm mit dem Titel “cling tightly”, die sich mit der Symbolkraft des Löwen als Teil des bayerischen Staatswappens beschäftigt. Mit dieser Verhüllung stellt die Künstlerin Assoziationen von Maskulinität und Herrschaftsanspruch in Frage, die mit diesem Tier bis heute in Verbindung gebracht werden.
Das ist eine der Stärken der Lindau Biennale: Sie bringt Selbstverständliches und Gewohntes auf positive Art ins Wanken, ohne dabei das schmeichelnde Stadtbild mit künstlerischen Fremdkörpern zu okkupieren. Dies gilt auch für den “Public Dancefloor” von Maria Anwander, der sich auf dem Plateau der Lindenschanze befindet. Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine interaktive Licht- und Soundinstallation zwischen den Bäumen, an denen eine Diskokugel, Lautsprecher und Stroboskope befestigt wurden. Zu jeder Tag- und Nachtzeit kann die Tanzfläche per Knopfdruck aktiviert werden. Es lohnt sich, die Reaktionen der Passant*innen abzuwarten, die entweder schnell das Weite suchen oder anfangen, sich unter der Diskokugel rhythmisch zur Popmusik zu bewegen.
Zugegeben, ein bayerischer Urlaubsort scheint erst einmal ein untypisches Setting für zeitgenössische Kunst zu sein. Doch sind es eben diese ungewöhnlichen Kombinationen aus idyllischem Kleinstadtflair und jungen künstlerischen Positionen, die positiv überraschen, weil sie Klischees abbauen, neue Kommunikationsräume eröffnen und das Potential von Kunst im öffentlichen Raum spürbar machen.
WANN: Die Lindau Biennale “In Situ Paradise” findet von Mai bis September statt. Am Samstag, den 18. Juni, ist die offizielle Eröffnungsfeier im Strandbad Schachen.
WO: Lindau im Bodensee.
In freundlicher Kooperation mit der Lindau Biennale.