Mehr als Meer
"The Ocean" in der Bergen Kunsthall

8. Oktober 2021 • Text von

Die Bergen Kunsthall widmet sich mit der Ausstellung „The Ocean“ gleich einer Vielzahl von Themen mit Meeresbezug. Es geht um die Geschichte der Stadt, um globale Netzwerke, schwindende Ressourcen, den Klimawandel und menschliches Machtstreben. Inmitten der Informationsflut bleiben einige Arbeiten besonders in Erinnerung.

Verschiedene Arbeiten, darunter eine Meeresfotografie von Wolfgang Tilmans und alte Bootsmodelle, installiert in der Bergen Kunsthall.
Installationsansicht “The Ocean”, Bergen Kunsthall, 2021. Photo: Thor Brødreskift. Courtesy the artists.

Den Blick aufs Meer gerichtet, das Land im Rücken. So lässt es sich aushalten. Ganz egal ob tropisches Hitzeflimmern am Horizont auszumachen oder eher nass-kalt spritzende Gischt zu spüren ist – wer aufs offene Wasser schaut, fühlt. Sehnsucht, Sorge, Angst, Fernweh oder Aufregung mischen sich mit Erinnerungen und Träumen und der bittersüßen Erkenntnis, dass da unter der sich mehr oder minder kräuselnden Oberfläche so viel verborgen liegt, was wir noch nicht verstehen. Der Ozean ist aber weitaus mehr als die romantisch aufgeladene Rahmung menschlicher Existenz, er ist Lebensgrundlage, Bindeglied und gefährdete Ressource. Die Ausstellung „The Ocean“ in der Bergen Kunsthall nähert sich der Thematik mit künstlerischen Positionen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln.

Links ein Foto von Bergen mit Blick auf den Hafen, recht ein Foto einer Kabel-Skulptur von Nina Canell.
Stadtzentrum von Bergen vom Berg Fløyen aus gesehen. Foto: Giulia Mangione. // Nina Canell Installationsansicht: 57th Venice Biennale, 2017 Foto: Andrea Rossetti.

Tief runter unter den Meeresspiegel geht es mit Arbeiten von Tabita Rezaire, Nina Canell und Ayesha Hameed. Dabei macht Canell ganz direkt greifbar, wovon wir zwar theoretisch wissen, was unserer Wahrnehmung jedoch im Alltag gänzlich entrückt ist: Unterseekabel, hier speziell solche, die im Bereich fossiler Energiegewinnung eingesetzt waren. Canell schneidet sie in ausstellungsgerechte Stücke und nennt sie „Brief Syllables“. Oft werden die Objekte auf Podesten oder extra gefertigten Metallstützen präsentiert, in der Kunsthall liegen sie auf dem Boden, mitten im Raum und in den Ecken. Die äußere Ummantelung lässt Wegwerfobjekte vermuten, im Anschnitt offenbaren sich die Schönheit und Symmetrie industriellen Materials. Unmerklich ist man ihnen nähergekommen, hat sie umkreist, sich hingehockt. Der Zugang ist gelegt, mehr Kabel, bitte.

Vor Meereshintergrund ist eine Frau zu sehen, die auf ihrem Smartphone scrollt. Semi-Transparent füllen das Bild verschiedene Google-Suchanfragen.
Still from Tabita Rezaire, Deep Down Tidal, 2017. HD video, 18 mins. Courtesy of the artist and Goodman Gallery, Johannesburg/ Cape Town/London.

„Actually, I’m not good. It’s this internet thing.” Eine junge Frau sitzt auf einer Wolke im Weltall und nimmt einen Anruf entgegen. Es geht direkt ans Eingemachte. Sie hat keinen Zugriff mehr auf ihr Facebook-Profil (die Arbeit ist von 2017). Wieso? „Elektronischen Kolonialismus“, würde Tabita Rezaire sagen. Die Künstlerin sensibilisiert mit ihrem Video für Kommunikationskabel, also für ein Netzwerk, das über mehr als eine Million Kilometer Länge unter Wasser alle Kontinente ausgenommen der Antarktis verbindet und das vor allem von Ländern des globalen Nordens kontrolliert wird. Machtausübung per Tiefsee also. Diese offenbart sich etwa in kurios bis bedenklicher Auto-Vervollständigung von Suchanfragen – „why do black people … have big lips / like fried chicken / have big noses / vote democat“. Statt Land wird über den digitalen Raum schließlich der Geist unterworfen, ein lähmender und doch vertrauter Gedanke. Zwischen Enrique Iglesias und Dollar-Scheinen erscheint das Internet als Ort von Ausbeutung, Unterdrückung, Klassismus, Rassismus, Homophobie und weiterer systemischer Ungleichheiten.

Blick in die Ausstellung "The Ocean" in der Bergen Kunsthall.
Installationsansicht “The Ocean”, Bergen Kunsthall, 2021. Photo: Thor Brødreskift. Courtesy the artists.

Ebenfalls um Kommunikationsverkabelung geht es in Ayesha Hameeds Soundinstallation „I sing of the sea, I am mermaid of the trees“. Es ist eine poetische Annäherung an die Verlegung des ersten telegrafischen Unterseekabels zwischen Indien und Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Arbeit ist das perfekte Beispiel dafür, wie es Kurator Axel Wieder immer wieder gelingt, neue Räume im Raum zu schaffen. Umringt von unterschiedlichen Positionen scheint man doch ganz mit einem Werk allein zu sein. Um Hameeds Stimme zu lauschen, begibt man sich hinter im Cyanotypie-Verfahren bedruckte Stoffbanen, Em’kal Eyongakpas Installation ist über mit ButtKicker-Lautsprecher befüllte Munitionskisten begehbar, für Elin Már Øyen Vister geht es hinein ins Dunkel, wo sich aus acht Lautsprechern der Klang der von Røst, einer Kommune in der norwegische Provinz Lofoten, zur Deep-Listening-Erfahrung zusammensetzt. Und dann sind da natürlich noch die Satelliten der Ausstellung, die das Thema der Ausstellung in die Stadt tragen.

Blick ins Flussbett, im Wasser steht eine Bronzeskulptur von Bea Schlingelhoff: eine Frau hält ein Baby im Arm.
Bea Schlingelhoff: “Bronze Sculpture Dedicated to the Descent of Woman”, 2021. Installationsansicht “The Ocean”, Bergen Kunsthall, 2021. Photo: Thor Brødreskift. Courtesy the artist.

Vertraut farbenfroh und während des Ausstellungsbesuchs bespielt von einer Gruppe Kinder weckt direkt vor der Kunsthall ein Pavillon von Sol Calero eine gewisse Reiselust – einmal über den Ozean, ab unter Palmen. Inmitten eines Wohnviertels gibt die Ebbe den unverstellten Blick auf Bea Schlingelhoffs „Bronze Sculpture Dedicated to the Descent of Woman“ im Flussbett frei, eine Frau mit Baby im Arm. In „The Descent of Woman“ ziehen Frauen ihre Kinder allein auf. Autorin Elaine Morgan nutzt für ihre Erzählung eine alternative Evolutionstheorie basierend auf der sogenannten Wasseraffen-Theorie, wonach die Menschwerdung eine amphibische Phase miteingeschlossen haben soll. Und ganz nah ran ans echte Wasser führt Besucher*innen eine Installation von Trond Ansten und Kåre Aleksander Grundvåg. Vier Keramik-Skulpturen ragen unscheinbar aus dem Nass hervor, sie markieren eine kleinformatige Seetangfarm – Algen gelten als nachhaltige Rohstoffquelle.

Ein Teil der Arbeit „sun~set pro~vision“ von Yuri Pattinson steht in einem leeren Ladenlokal.
Yuri Pattison sun (set) provisioning, 2019. Courtesy: Der Künstler und mother’s tankstation, Dublin.

Es ist ein gewaltiger Wurf, den die Bergen Kunsthall mit „The Ocean“ wagt. Das Thema ist vielschichtig, reich an wissenschaftlichen Informationen, von politischer Brisanz und eben nicht mal schnell ästhetisch abgehandelt. Unmöglich, dem Gesamtwerk auf wenigen Zeilen gerecht zu werden. Den perfekten Bogen von romantischer Verklärung zu faktischer Realität spannt Yuri Pattison mit „sun~set pro~vision“. Ein Teil der Arbeit ist in der Bergen Kunsthall installiert, ein anderer in einem leeren Ladengeschäft am Hafen. Hochkant in einem Aluminiumgestell verankerte Bildschirme zeigen die Meeresoberfläche bei Sonnenauf- beziehungsweise -untergang. Es sind digital gerenderte Bilder von scheinbar natürlicher Schönheit. Doch hinter ihrer leuchtenden Farbigkeit schwelt Unbehagen. Je spektakulärer die Färbung der Szenerie, desto mehr Verschmutzung verzeichnet der Luft-Monitor uRad. Pattison nutzt die öffentlich zugänglichen Daten, um auf poetische Weise vom Schönen aufs Schreckliche zu verweisen. Das atmosphärische Instagram-Foto, die nackten Zahlen – dazwischen so viele Wahrheiten, die es noch zu ergründen gilt.

WANN: Die Ausstellung „The Ocean“ läuft noch bis Sonntag, den 31. Oktober.
WO: Bergen Kunsthall, Rasmus Meyers allé 5, 5015 Bergen, Norwegen.