Geschichten der Ungerechtigkeit "True Pictures? LaToya Ruby Frazier" im Kunstmuseum Wolfsburg
17. März 2022 • Text von Carolin Kralapp
Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt derzeit mit “True Pictures?” die erste Einzelausstellung von LaToya Ruby Frazier in Deutschland. Mit ihren Fotografien, Videos und Performances richtet die US-amerikanischen Künstlerin den Blick auf Arbeitsmigration, soziale Ungerechtigkeiten, Rassismus und Umweltverschmutzung. Ihre künstlerische Sprache ist persönlich, emphatisch und immer wieder biografisch geprägt. In ihrer Kunst macht sie sich stark für die Arbeiterklasse und verschafft den Problemen vieler Menschen in ihrem Heimatland Sichtbarkeit.

LaToya Ruby Frazier nimmt sich in ihrer Kunst den Themen an, die sie bereits seit ihrer Geburt 1982 in Braddock, Pennsylvania begleitet haben: dem wirtschaftlichen Niedergang, sozialer Ungerechtigkeit und hoher Arbeitslosigkeit. An dem ehemaligen Stahlstandort, an dem Frazier aufgewachsen ist, mussten sie und ihre Familie sich stets mit den negativen Veränderungen des Stadtbilds, der Wirtschaft und aber auch den jahrzehntelangen Umweltbelastungen auseinandersetzen, denen sie über lange Zeit ausgesetzt waren. In ihrer frühen Werkserie “The Notion of Family”, die zwischen 2001 und 2014 entstanden ist, hält die Künstlerin ihre Lebenssituation und ihr familiäres Umfeld in Schwarz-Weiß-Fotografien fest.

Die Ausstellungsreihe “True Pictures?”, die in Kooperation mit dem Sprengel Museum Hannover und dem Museum für Photographie realisiert wurde, beschäftigt sich mit verschiedenen fotografischen Positionen aus Kanada und den USA. Während in Hannover und Braunschweig mehrere Künstler*innen unter einem Dach versammelt wurden, hat das Kunstmuseum Wolfsburg die erste institutionelle Einzelausstellung Fraziers in Deutschland umgesetzt. Die Ausstellung umfasst etwa 160 Werke sowohl aus der frühen Schaffenszeit der Künstlerin als auch aktuelle Arbeiten.

Fraziers Schwarz-Weiß-Fotografien visualisieren eine große Bandbreite an Motiven: intime und nachdenklich stimmende Familienporträts, Demonstrationen, Landschafts- und Detailaufnahmen. Sie erzählen Geschichten von Menschen, die ihre Jobs verloren haben oder an ihren Wohnorten schweren Umweltkatastrophen ausgesetzt sind, von Orten, die zerrüttet und verschmutzt sind. In der Serie “Flint is Family II” von 2017 begleitet Frazier beispielsweise eine Familie auf ihrem Weg nach Mississippi, um dem verseuchten Trinkwasser in Flint und damit potenziellen Gefahren für ihre Gesundheit zu entfliehen.

Frazier nutzt ihre Kamera, um ein Bewusstsein für gesellschaftliche Missstände und Problematiken zu schaffen, um Menschen und ihren persönlichen Geschichten eine Plattform zu bieten, die sonst in der Masse und in Anbetracht der großen Weltereignissen verschwinden würden. Auch wenn ihre Bilder nicht sprechen können, so gibt sie ihnen mit ihrem menschlichen und authentischen Blick durch die Linse eine Stimme. Die Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg scheut sich nicht, die vielen, einzelnen Schicksale der dargestellten Personen und Orte darzustellen und in begleitenden Textmaterial nachlesbar zu machen.

Die noch junge Werkserie “The Last Cruze” von 2019 porträtiert ehemalige Werksmitarbeiter*innen des US-amerikanischen Automobilherstellers General Motors in Lordstown, Ohio. Trotz aller Bemühungen konnte das Werk nicht vor der Schließung bewahrt werden, die die Mitarbeiter*innen in die Unsicherheit riss. Sie wurden vor die Wahl gestellt: Verlassen sie ihre Heimat und werden an einen anderen Standort von General Motors in den USA versetzt oder bleiben sie ohne Arbeit, Sicherheit und jegliche Ansprüche auf Rente an ihrem bisherigen bekannten und vertrauten Wohnort? Frazier zeigt in der umfassenden Serie die Familien, wie sie dem ungewollten Schicksal ins Auge blicken.

LaToya Ruby Fraziers bewegt sich mit ihren Arbeiten zwischen Kunst und Aktivismus. Sie bringt in emotionalen Fotografien immer wieder etwas zum Ausdruck, was die meisten von uns wohl nicht als “ästhetisch” bezeichnen würden. Sie verschleiert und beschönigt nichts – sie bildet ab, was real ist und den Alltag vieler Menschen in Amerika maßgeblich kennzeichnet. Sie zeigt dabei immer wieder auch sich selbst und ihre eigene Familie, was ihre Bildsprache und Erzählweise besonders persönlich und intim macht. Sie ist nicht einfach nur eine stille Beobachterin, die das Leid anderer Menschen ablichtet, sie sieht sich selbst als ein Teil davon.
WANN: Die Ausstellung “True Pictures? LaToya Ruby Frazier” läuft noch bis Sonntag, den 10. April.
WO: Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, 38440 Wolfsburg.