Leerstellen im kollektiven Gedächtnis James Gregory Atkinson im Dortmunder Kunstverein
5. Februar 2022 • Text von Gast
James Gregory Atkinson macht im Dortmunder Kunstverein Leerstellen afroamerikanisch-deutscher Geschichte sichtbar. „6 Friedberg-Chicago“ verknüpft Bilder von der Army Base, wo Atkinsons Vater stationiert war, mit historischen wie zeitgenössischen Narrativen aus einem Archiv über Schwarze US-Soldaten und ihre Nachkommen in Deutschland. (Text: Stella Baßenhoff)
6:47 Uhr in Friedberg, Hessen. 23:47 Uhr in Chicago, Illinois. Diese Zeiten zeigen Uhren dem Besucher im Eingangsbereich des Dortmunder Kunstvereins an. Wieso diese beiden Orte? Sind sie zufällig gewählt? In Friedberg befanden sich bis 2007 die „Ray Barracks“, eine Kaserne der US Army, die seit 1945 dort stationiert war. Und Chicago? Dies ist der Geburtsort des Vaters von Künstler James Gregory Atkinson. Er war in Friedberg als Soldat stationiert.
Der Dortmunder Kunstverein zeigt mit „6 Friedberg-Chicago“ die erste institutionelle Einzelausstellung des deutsch-amerikanischen Künstlers Atkinson, der am Lette-Verein in Berlin und an der Städelschule bei Douglas Gordon in Frankfurt studierte. Die künstlerische Praxis Atkinsons ist multidisziplinär und in seinen Arbeiten kommen oftmals verschiedene Medien wie Malerei, Fotografie Film oder Musik, aber auch Performance zum Einsatz. So ist in Dortmund eine multimediale Ausstellung entstanden.
Titelgebend ist die eigens für die Ausstellung erarbeitete Videoarbeit „6 Friedberg-Chicago“, die in der oben genannten ehemaligen US Army Base in Friedberg gedreht wurde. Sie ist in Zusammenarbeit mit dem früheren Forsythe-Company Tänzer und Choreografen Josh Johnson und der queeren Harfenistin Ahya Simone entstanden. Mit ihr hatte Atkinson zuvor schon für seine Ausstellung „Show Me Your Shelves“ (Detroit Public Library, 2019) zusammengearbeitet. Das Video zeigt eine Gruppe von 17 Darstellern, deren Väter als afroamerikanische US-Soldaten in Deutschland stationiert waren. Die Choreografie von Johnson und die Ästhetik des Videos sind an Musikvideos orientiert, die für viele Menschen, die in den 1990er Jahren aufgewachsene sind, einen ersten Berührungspunkt mit künstlerischem Ausdruck darstellten. Der Titel der Videoarbeit ist angelehnt an den Spielfilm „1 Berlin-Harlem“ von Lothar Lambert und Wolfram Zobusaus dem Jahr 1974, der die Geschichte eines Schwarzen US-Soldaten in West-Berlin erzählt.
Die Zusammenarbeit mit anderen Künstler*innen ist für Atkinsons Werk entscheidend. Er beschreibt sie als „treibende Kraft“ seiner künstlerischen Praxis. So zeigt Atkinson in Dortmund auch ein Archiv, welches er zusammen mit der Kunsthistorikerin Mearg Negusse und dem Soziologen und Politikwissenschaftler Eric Otieno erarbeitet hat. Collagiert finden sich Texte, Bilder, Objekte, multimediale Zeitdokumente und Zeitzeugenberichte, die sich vor allem mit der Geschichte Schwarzer Soldaten in Deutschland und deren Nachkommen auseinandersetzen.
Die Exklusion von bestimmten Themen in unseren Bibliotheken oder Archiven führt dazu, dass manche Geschichten verdrängt werden oder für eine größere Öffentlichkeit nicht genügend präsent sind, findet Atkinson. Er möchte deswegen queere und nicht-weiße Narrative sichtbar machen und in einen Dialog mit unserer Gegenwart treten lassen.
Atkinsons alternatives Archiv ist nicht linear. Es orientiert sich nicht an einer stringenten Zeitlichkeit, sondern bringt verschiedene Biografien und Themen zusammen. Der Künstler bringt seine eigene Biografie in Dialog mit anderen zeitgenössischen oder historischen Biografien, so zum Beispiel die des preußischen Militärmusikers Gustav Sabac el Cher (1868-1934), der Schauspielerin Elfie Fiegert (*1946), des Boxers Charly Graf (*1946) oder des Schauspielers Günther Kauffmann (1947-2012).
Das Archiv enthält historische Referenzen zu den sogenannten Rheinlandkindern, Kindern von Soldaten aus französischen Kolonialtruppen, die in der Zeit der Rheinlandbesetzung in den 1920er Jahren geboren wurden und im Nationalsozialismus als sogenannte „Rheinlandbastarde“ systematisch verfolgt und zwangssterilisiert wurden. Außerdem enthält es vorwiegend Materialien zu den Kindern afroamerikanischer US-Soldaten, die von 1946 bis heute vor allem in Hessen und Südwestdeutschland zur Welt gekommen und dort aufgewachsen sind.
Das Jahr 1952 spielt dabei eine bedeutende Rolle, da es das Jahr der Einschulung der ersten Generation mehrerer Schwarzer „Besatzungskinder“ darstellte und so unter anderem eine Bundestagsdebatte auslöste, von der man in der Ausstellung einen Tonmitschnitt hören kann. Im gleichen Jahr erschien der Film „Toxi“, der erstmalig die Situation der Nachkommen der in Deutschland stationierten afroamerikanischen US-Soldaten thematisierte. Das Vorhandensein von rassistischen Stereotypen gegenüber diesen Kindern und ihren Familien wird anhand dieser Beispiele deutlich. Es sind Zeugnisse eines Anti-Schwarzen Rassismus, der in unserer Gegenwart immer noch aktuell ist.
Atkinson schafft außerdem eine Verknüpfung zwischen dem Archiv und der im hinteren Teil der Ausstellung gezeigten Videoarbeit. Der Soundtrack dieser bildet eine Neuadaption der Titelmusik des oben genannten Filmes „Toxi“ („Ich möcht’ so gern nach Hause geh’n“), der im Video von der Harfenistin Simone gesungen wird.
Atkinsons Archiv zeigt auch, dass es in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland durch aktivistische Solidaritätsgruppen wie das Black Panther-Solidaritätskomittee oder die Zeitschrift „Voice of the Lumpen“einen Zusammenschluss zwischen US-Bürgerrechtsbewegungen, Schwarzen Soldaten in Deutschland und politischen Aktivist*innen gab. Dass vor allem die in Westdeutschland stationierten afroamerikanischen Soldaten eine entscheidende Rolle für die Geschichte der US-Bürgerrechtsbewegung spielten, ist heute so gut wie gar nicht bekannt. Da sich die Geschichtsschreibung immer noch häufig innerhalb strikt festgelegter geographischer Grenzen bewegt, ist die transnationale Dimension vieler Bereiche innerhalb der amerikanischen Geschichte im Allgemeinen wie auch der afroamerikanischen Geschichte im Besonderen bisher erst ansatzweise erarbeitet worden
James Gregory Atkinson beleuchtet in der Ausstellung im Dortmunder Kunstverein an verschiedenen Punkten auf persönlicher, gesellschaftlicher und politischer Ebene einen Teil afroamerikanisch-deutscher Geschichte. Es handelt sich nicht um neue Geschichten, sondern Geschichten, die in einem breiten kollektiven Gedächtnis durch mangelnde Repräsentation fehlen und durch die Ausstellung ins Bewusstsein gehoben werden.
WANN: Die Ausstellung „6 Friedberg-Chicago“ von James Gregory Atkinson läuft bis zum 13. März.
WO: Dortmunder Kunstverein, Park der Partnerstädte 2, 44137 Dortmund.