Sich das Unbewusste bewusst machen
Nicole Fritz über Freuds Einfluss auf die Kunst

26. Oktober 2023 • Text von

Als Begründer der Psychoanalyse hat Sigmund Freud zu Beginn des letzten Jahrhunderts das Menschenbild nachhaltig verändert. Mit seiner Idee vom Unbewussten prägt er die Kultur des 20. Jahrhunderts. Wie er damit die Kunst bis in die Gegenwart beeinflusst und welche Künstler*innen ihn kritisch betrachten, erzählt uns Dr. Nicole Fritz. Wir sprechen mit der Direktorin der Kunsthalle Tübingen und Kuratorin der Ausstellung “Innenwelten. Sigmund Freud und die Kunst”.  

Jeff Wall Kunsthalle Tuebingen
Jeff Wall, “A Woman and her Doctor, 1980-81”, transparency in lightbox, 100,5 x 155,5 cm, Privatsammlung, Schweiz, Courtesy of the artist.

gallerytalk.net: Sie befinden sich mitten im Aufbau der Ausstellung “Innenwelten. Sigmund Freud und die Kunst”. Wie kommen sie voran?

Dr. Nicole Fritz: Es sind dieses Mal sehr viele verschiedene, diffizile Werke, aber wir haben ein großartiges Team und wie immer macht der Aufbau sehr viel Spaß. Das ist eigentlich die kreative Arbeit am Ausstellungsmachen und ich genieße es mit so einem Team gemeinsam den Aufbau zu bewerkstelligen.

Was erwartet die Besucher*innen der Ausstellung?

Eine spannende, facettenreiche Ausstellung, die über 100 Jahre umspannt und von Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart führt. Es geht um den Einfluss von Sigmund Freud auf die Kunst und nicht um die Kunstwerke von Freud (lacht). 

Julie Hayward Sublimator 2003
Julie Hayward, Sublimator, 2003, Aluminium, Plexiglas, Schaumstoff, Plüsch, Lackstoff, LENTOS Kunstmuseum Linz © VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: Heinz Großkopf.

Inwiefern hat Sigmund Freud die Kunst beeinflusst?

Es geht um den Einfluss seiner Schriften, angefangen bei den Traumdeutungen um 1900 auf den Surrealismus und Expressionismus. Es sind immer wieder Wellen von Psychologisierung in der Gesellschaft zu erkennen, die meistens parallel zu krisenhaften Zeiten entstehen. So auch in der Nachkriegszeit um die 1960er-Jahre. Mit der Studentenrevolution gab es eine Welle der Therapeutisierung, in der die Psychoanalyse auch die breite Masse erreicht hat, sowie künstlerische Positionen, die sich unmittelbar auf die Freudschen Ansätze berufen.

Welche Positionen wären das? 

Bei Joseph Beuys beispielsweise geht es sehr viel um Traumabewältigung. Hermann Nitsch und Beuys verwenden therapeutische Ansätze, die von der Psychoanalyse beeinflusst sind und mit denen sie sozusagen die Gesellschaft therapeutisieren wollen. Unterdrückte Kräfte, ob Eros oder Thanatos Kräfte sollen in Performances freigesetzten werden. In den 1960er und 1970er-Jahren gibt es dagegen auch Künstlerinnen, die sich sehr kritisch mit dem Freudschen Erbe auseinandersetzen.

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Gregory Crewdson, Untitled, 2001-2002, Digitaler C-Print auf Aluminium laminiert, 120,5 x 151,1 cm, Courtesy Sammlung Goetz, München © Gregory Crewdson. 

Es wird also auch Kunst zu sehen sein, die sich kritisch mit Freud auseinandersetzt? 

Ja, das ist ganz wichtig. Freud war ein Mann seiner Zeit, seine Theorien sind sehr männerzentriert  und haben auch die Medizingeschichte über Jahrzehnte aus einer männlichen Perspektive geprägt. Während den studentischen Revolten haben sich Künstlerinnen sehr kritisch mit dieser Männerzentrierung auseinandergesetzt. Diese Positionen wiederum beeinflussen Gegenwartskünstlerinnen wie Raphaela Vogel. Sie hat das von den Surrealisten sehr unheimlich etikettierte Weibliche in ihren Arbeiten überdimensioniert. Das Weibliche wird hier mit einer sehr machoartigen Geste, die man eigentlich nur den Männern zugesprochen hat, ironisch ins Bild gesetzt.

Wie ist die Ausstellung gegliedert?

Wir haben thematisch gruppiert: Der Traum, Eros und Thanatos und das Unheimliche. Viele Künstler*innen verwenden das Unheimliche als Begriff für etwas Verdrängtes, das sich plötzlich Bahn bricht in der Gegenwart. Freud hat diese Angst sehr schön beschrieben. Den Künstler*innen heute geht es dagegen weniger um das individuelle Unbewusste, wie es bei den Surrealisten der Fall war. Sie versuchen viel mehr gesellschaftliche, kollektive Tabus aufzugreifen und zu spiegeln. 

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Esther Shalev-Gerz, Between Listening and Telling: Last Witnesses, Auschwitz 1945 –2005, 2005, Installationsansicht Jeu de Paume, Paris, 2010, Installation, 3-Kanal Videoprojektion © Esther Shalev-Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: Arno Gisinger.

Mit welchen gesellschaftlichen Themen in Bezug zum Unbewussten setzen sich die Künstler*innen auseinander?

Cindy Sherman und Nadja Schöllhammer zum Beispiel greifen den Einfluss der Medien auf. Sie dekonstruieren die Bilderflut und zeigen auf, was es mit uns macht, wenn wir immer von den Idealen der Medien umgeben sind. In eine ähnliche Richtung geht auch Barbara Breitenfellner. Sie hat ein riesiges Wandbild im ersten Raum der Ausstellung gestaltet. Darin zeigt sie auf, dass wir heute auf Grund der medialen Bilderflut, der wir permanent ausgesetzt sind, ganz anders träumen.

Haben Sie eine Lieblingsarbeit in der Ausstellung, über die Sie sich besonders freuen werden? 

Ich bin sehr glücklich, dass wir Joseph Beuys mit bisher unveröffentlichten Blättern aus dem Museum Schloss Moyland zeigen können. Wenn ich jetzt noch mal überlege bin ich auch sehr stolz auf die Zeichnung von Käthe Kollwitz, die wir vom Käthe Kollwitz Museum in Köln bekommen haben. Der Einfluss der Psychoanalyse war bei ihr sehr stark. Sie hat viel von Freud gelesen und ihr eigenes Leben in den Begriffen von Freud gedeutet, das sieht man auch in ihren Tagebucheinträgen. Die Zeichnung, die wir ausstellen, gibt Hinweise über die Beziehung zu ihrem Sohn Hans.

Kollwitz Selbstbildnis mit dem Sohn Hans 1914 1916
Käthe Kollwitz, Selbstbildnis mit dem Sohn Hans, 1914-1916, Schwarze Kreide auf Ingres-Bütten, 480 x 634 mm, NT 732, Käthe Kollwitz Museum Köln.

Sind Sie bei den Vorbereitungen zur Ausstellung auf etwas Überraschendes gestoßen?

Ich habe entdeckt, dass die Beziehung zwischen dem Expressionismus und Sigmund Freud noch nicht wirklich erforscht wurde. Das habe ich im Katalogtext erarbeitet. Da gibt es für viele junge Forscher*innen noch viel zu tun, damit die transdisziplinären Wechselwirkungen von Kunst und Psychoanalyse noch besser erfasst werden. 

Wie sind Sie denn ursprünglich zu Sigmund Freud gekommen?

Ich hatte die Idee schon seit 2017, damals hatte ich mich mit dem Thema hier beworben. Ich hatte mit Künstler*innen gesprochen, die sich immer wieder auf Freud bezogen haben und erzählten, dass Freud für sie im Zuge der Selbsterfoschung eine Tür geöffnet hatte – auch wenn er manche Tür vor sich selber verschlossen gehalten hat in Bezug auf den weiblichen Kosmos. Auch in der Literatur ist mir aufgefallen, dass Freud wiederentdeckt wird. Ich finde interdisziplinäre Arbeit sehr wichtig und ich wollte diese Wiederentdeckung aufarbeiten.  

WANN: Die Ausstellung “Innenwelten. Sigmund Freud und die Kunst” eröffnet am 27. Oktober und läuft bis 03. März 2024. 
WO: Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76, 72076 Tübingen.