Rummelplätze des gesellschaftlichen Tuns Anna Jermolaewa im Rupertinum
27. März 2024 • Text von Gast
Autos als komfortable Marktstände, zusammengeschobene Müllinseln von wertlosen Wertgegenständen, in die Landschaft ragende Unsinnigkeiten: Ausgehend von Fotografien eigentümlicher Obst- und Gemüsemärkte tut sich im Salzburger Rupertinum derzeit ein ganzer Mikrokosmos kleiner, aber entscheidender gesellschaftlicher Momente auf. Die diesjährige österreichische Biennale-Vertreterin Anna Jermolaewa zeigt sich der Soziologie des Alltags zugeneigt. (Text: Florian Gucher)
In unterschiedlichsten Variationen taucht das Modell des Volga in den von links nach rechts gehängten C-Prints der Serie „Volga etc.“ auf. Die Kofferräume der Autos sind vollgepackt mit Gemüse und Obst von meist nur einer Sorte, die die Händler:innen quasi aus dem Autor heraus auf einen Markt in der aserbaidschanischen Stadt Jerewan verkaufen. Durch den Storyboard-Charakter der Hängung in der aktuellen Ausstellung von Anna Jermolaewa im Rupertinum des Museums für Moderne Salzburg können Besucher:innen nun selbst imaginär über den Markt schlendern.
Jermolaewas Arbeiten geben durch kleine Details sozialgesellschaftliche Realitäten aus diesem Mikrokosmos des Marktes preis, die sich auf ein größeres Ganzes übertragen lassen. Welche Lebensmittel sind zu sehen? Wieso die Inszenierung in mehr oder weniger bis zum Rand vollgepackten Autos? Spielt eine Rolle, wie weit geöffnet der Kofferraum steht? Lebensweisen kommen zutage oder ganze Geschichten sozialer Umstände und Narrative.
Die Fotografien im Einzelnen wirken ähnlich, sie unterscheiden sich unmerklich voneinander. Mal sind Käufer- und Verkäufer:innen vor den Autos zu sehen. Mal ist der Volga oder nur der Kofferraum ins Zentrum gerückt. Da sind dann die bildkompositorischen Elemente prägend. Beispielsweise wenn es darum geht, wie sich die roten Tomaten im Inneren des Autos wie in den außenstehenden Schachteln und Kisten zu dem ockerfarbenen Gefährt selbst verhalten. Oder Wassermelonen, die vor offenem Kofferraum unter buntem Sonnenschirm südliches Flair heraufbeschwören. An anderer Stelle wiederum trifft Rot auf Rot, das wiederum auf ein rot-schwarzes Kleid einer abgewandten, auf den Boden blickenden Käuferin mit ebensolchem Haar referiert. Oder aber das Grün des Gemüses auf den Rücksitzen spiegelt unmittelbar auf den Lack des Autos. In solchen Einzelheiten liegen ganze Geschichten verborgen.
Anna Jermolaewa interessiert sich für Geschichten, die eines genauen Blicks bedürfen, um entschleiert zu werden. Ihre Fotografien haben zunächst scheinbar banalen, vielleicht sogar zufällig anmutenden Charakter, doch sind sie alles andere als zufällig geknipst. Für die in Russland geborene, heute in Wien lebende Künstlerin sind es gerade die Alltäglichkeiten, die mehr über eine Gesellschaft preisgeben, gerade weil sie zu wenig berücksichtigt werden.
Jermolaewa ist eine aufmerksame Beobachterin des Alltags. Ihr Blick richtet sich auf Selbstverständliches, auf die existenzielle Natur von Nebensächlichkeiten. Ihr künstlerisches Spielfeld – zumindest in dieser Ausstellung – sind Märkte oder aber Orte, an denen die Gesellschaft zusammenfindet. Bereits der Soziologe Max Weber bezeichnete Märkte als „allgemeine Muster des sozialen Handelns“. Ähnlich versteht sie auch Jermolaewa. In ihren Fotografien erscheinen Märkte als eine in sich geschlossene, aber auf unmittelbar die Gesellschaft referierende eigene Welt, die doch mit der Welt da draußen verwoben ist.
Dieser Gedanke zieht sich außerhalb der „Marktstudien“ fort. Für die Videoarbeit „5-Jahresplan“ hat Jermolaewa im Fünfjahresrhythmus immer dieselbe Einstellung auf einer Rolltreppe einer St. Petersburger U-Bahn-Station aufgenommen. Das 1996 begonnene Projekt umfasst bereits einen Zeitraum mehr als 20 Jahren. Es endete vorläufig mit den 2021 aufgenommenen Einstellungen, in welcher man sieht, wie Menschen inmitten der Corona-Pandemie Masken tragen.
Sozialgesellschaftliche Momente sind ganz subtil in die Arbeit eingebunden: In Slow-Motion Manier können sich Besucher:innen ein Bild davon machen, wie sich ein und derselbe Ort im Laufe der Zeit verändert hat. So haben sich Beleuchtungen und Beschriftungen des Areales geändert. Aber auch die Werbesprache, die Werbeartikel, die Kleidung und die Einkaufstaschen, ja selbst die Verhaltensweisen der ins Bild tretenden Menschen ist im Wandel begriffen.
Nicht nur die Geschichte der Technik wird untergründig in Form von zunächst alten, immer neuer werdenden Handys und schließlich Smartphones miteingeflochten. Mit dazu und vielleicht noch vordergründiger ergibt sich die Geschichte der sozialen Fluidität und Veränderbarkeit im Laufe einer Generation. Diese bildet sich im Wandel der Moden ab. Auch der Akt des Runterfahrens quasi ins Innenleben, in den „Bauch“ der Metro gibt der Videoarbeit nochmals eine ganz eigene Note und zwar im ästhetischen Sinne wie auch als Treffpunkt, an dem sozial gesehen alles zusammenfindet.
Ähnlich mikroskopisch filtert Jermolaewa dann in ihrer Serie „Back to the silk routes“ vor, die in der Ausstellung erst zum zweiten Mal nach einer Präsentation auf den Wiener Festwochen 2010 öffentlich gezeigt wird. Im Zentrum stehen dabei Geschäftsleute vom Wiener Naschmarkt und ihre Wurzeln. Man führe sich dazu vor Augen, dass beinahe die Hälfte der Händler:innen des Marktes aus Usbekistan stammen und größtenteils in den 70er- und 80er-Jahren als bucharische Juden aus der damaligen Sowjetunion nach Israel ausgewandert sind, um schließlich über Umwege den Weg nach Wien zu finden.
Die Künstlerin folgte den Geschichten der Marktleute akribisch. Sie interessierte sich für die Gerüche, Stoffe, Süßigkeiten und Erinnerungen, die die Händler:innen aus ihrer Heimat mitgebracht haben, um sie dann ihren Eigenheiten akribisch zu porträtieren. Oft werden weiße Maulbeeren genannt, eine spezielle Delikatesse vor Ort. Aus Jermolaewas Video spricht neben der süßen Erinnerung auch ein düsteres, fast schon melancholisches Gefühl einer Entwurzelung – und eines Neubeginnes.
Dann poppen sogenannte „Found objets“, die in dieser Konstellation erstmals überhaupt gezeigt werde, in der Ausstellung auf. Jermolaewa befragt Objekte, die von ihrem ursprünglichen Sinn losgelöst und in einen abstrusen Kontext verfrachtet wurden, nach Sinn und Nutzen. Zu sehen ist beispielsweise eine Tribüne im leeren Feld oder ein Floß, das nicht mehr funktionsfähig ist, aber an der Bucht zum Ablegen bereitsteht. So fragt sie auch nach den Geschichten, die hinter diesen scheinbar oder tatsächlich sinnbefreiten Dingen stecken. Was wollen sie erzählen? In welchem Verhältnis stehen sie zur Vergangenheit und Gegenwart? Sind sie Fiktion oder Realität, Utopie oder Dystopie?
Mit einer kleineren Videoinstallation schlägt die Ausstellung die Brücke zum wöchentlich stattfindenden Flohmarkt am Naschmarkt. Hier wird um den Wert der Gegenstände gefeilscht, doch beendet die Müllabfuhr den Handel unmittelbar mit dem Marktschluss abrupt und fährt über die nun in die Wertlosigkeit gefallenen Objekte gnadenlos drüber, um sie zu Müll zu deklarieren und in weiterer Folge zur Deponie zu bringen. Einzelnen Menschen versuchen noch zu retten, was geht und was verschont werden soll.
Dieser Kippeffekt interessiert Jermolaewa auch als Moment, in dem eine Gesellschaft über Wert und Belanglosigkeit bestimmt. Die Künstlerin hat zu diesem Zwecke die Kamera auf ein Skateboard gestellt, um die Ebene, auf der sich die Gegenstände befinden, authentisch einzufangen. Betrachter:innen stehen ihnen so ganz nahe, sehen das Geschehen nicht nur aus einer distanzierten Vogelperspektive von oben herab. Ganz zentral, immer auf Augenhöhe befindlich bleibt ein kleiner Stoffelefant, der hin und her geschoben wird und dessen Schicksal bereits vorhersehbar ist. Es ist kleines Detail im Ganzen, das aufgeladen mit verschiedensten Narrativen, die bis in die eigene Kindheit zurückreichen, berühren kann. Und zeitgleich ganz gut aufzeigt, wie Jermolaewa den Alltäglichkeiten eine existenzielle Note verleiht.
Die Ausstellung Jermolaewas im Rupertinum ist insofern von Relevanz, als sie einen Aspekt des sonst gut aufarbeiteten Schaffens der Künstlerin zeigt, der noch ziemlich unterbelichtet ist. Die von Tina Teufel und Kerstin Stremmel kuratierte Schau fokussiert sich auf die sich den Märkten und Flohmärkten widmenden Arbeiten der Künstlerin, die selten oder überhaupt noch nie gezeigt wurden, blickt aber damit zusammenhängend auch darüber hinaus, in dem Sinne, dass sich die Ausstellung auf sozialgesellschaftliche Werke im Ganzen erweitert. So wird sie zur gesellschaftlichen Studie und verlieht dem Kleinen im Großen an Stimme. In dem Sinne erweitert sie Jermolaewas bekanntes Oeuvre um ein weiteres, für sie als Künstlerin durchaus repräsentatives Kapitel.
WANN: Die Ausstellung “Anna Jermolaewa. Otto-Breicha-Preis für Fotokunst 2021” läuft bis Montag, den 1. April.
WO: Rupertinum, Museum der Moderne Salzburg, Wiener-Philharmoniker-Gasse 9 5020 Salzburg.