Hier in Stille
Die Buch-Ausstellung "Still Here. Moments in Isolation"

30. Juli 2021 • Text von

Der Bildband “Still Here. Moments in Isolation” zeigt die Stillleben internationaler Künstler*innen, entstanden während der globalen Lockdowns 2020-2021. Witzig, geistreich, persönlich, intim. Still. Die Publikation verbindet geistige Reflexion mit der Erkundung eines klassischen Mediums der Kunstgeschichte. Und generiert ein visuelles Archiv einer geteilten gesellschaftlichen Zeiterfahrung.

Das Bild zeigt eine Bildmontage der Künstlerin Davoneilen Tines, welche diverse Gegenstände ihrer alltäglichen Routinen und deren Bezeichnung darstellt.
Davoneilen Tines: “My day in objects”, 2020. In: “Still Here. Moments in Isolation”, DISTANZ, 2021.

12. Februar 2021, Dusseldorf, Germany. 23. April 2020, New York, USA. 19. Januar 2021, Reykjavik, Iceland. Bei Aufschlagen des Buches sieh man zunächst lediglich Daten und Orte, die ersten drei Doppelseiten lang. Einband, extended Version. Zum einen, um den Beitragenden gerechten Tribut zu zeugen, zum anderen, um das Ausmaß der kollektiven Situation zu verdeutlichen. Die Daten bezeichnen die Entstehungsorte und -zeiten der 127 Stillleben, die in “Still Here. Moments in Isolation” versammelt sind. Anfang 2020, mit Beginn der ersten “Lockdowns” als virtuell angelegte Initiative begonnen, entstand im Sommer 2020 der Plan, die Beiträge in Buchform zu versammeln. International, über sechs Kontinente verteilt, und den Zeitraum von Februar 2020 bis März 2021 umspannend, reflektiert das Projekt eine globale Ausnahmesituation, die individuell, “in Isolation” erfahren wurde. 

Das Bild zeigt eine Doppelseite des Einbandes der Publikation "Still Here. Moments in Isolation", erschienen im DISTANZ-Verlag 2021.
“Still Here. Moments in Isolation”, Einband, DISTANZ, 2021.

Die Kuratorinnen und Urheberinnen des Projektes Mafalda Millies und Roya Sachs adressierten bildende sowie darstellende Künstler*innen, Autor*innen, Architekt*innen und Designer*innen. Die Auswahl und der künstlerische Ansatz der Arbeiten sind entsprechend divers. Neben den „klassischen“ Fotografien finden sich Moving und Animated Images sowie Audio-Arbeiten, welche über die “DISTANZ Publishing”-App rezipierbar sind. Eine Duft-Arbeit der Norwegischen Geruchs-Forscherin und Künstlerin Sissel Tolaas verbindet Buch und Synästhesie, #personalfavourite. Der ausführliche Essay “Still life. A selective history of things on the table” von Jeniffer Higgs in der Mitte des Buches gibt einen selektiv-umfassenden, daher innovativen Überblick über das viel beschriebene Thema des Stilllebens. Ein Vorwort von Matthias Kliefoth, dem Herausgeber des DISTANZ-Verlages, und eine erläuternde Einführung der beiden Kuratorinnen setzen den Rahmen für die folgende (audio-)visuelle Erfahrung. Eine persönliche Auswahl:

Das Bild zeigt ein Stillleben der Künstlerin Shirin Neshat, auf welchem ein verderbender Apfel und ein diesen betrachtenden Käfer zu sehen sind.
Shirin Neshat: 29_Mar_2020, New York City, USA, 2020. In: “Still Here. Moments in Isolation”, DISTANZ, 2021.

Einfach – simple – und einnehmend. “… a rotten apple and a bug that is both attracted and turned off by it. We tried to change the world and now the world is changing us.” Der vergehende Apfel mag eine Kamera sein, das bedrohliche Auge Saurons oder eine unbekannte Gefahr, aus der Perspektive des Käfers. Shirin Neshat abstrahiert das Stillleben, und fügt ihm über eine animierte Version des Bildes eine weitere Erfahrungsebene hinzu.

Das Bild zeigt ein Stilleben der Künstler Jonathan Freeman und Justin Lowe mit diversen Früchten, welche über Kabel miteinander verbunden sind.
Jonathan Freeman & Justin Lowe, Floating Chain (Systems of Distraction: April 2, 2.23 AM), 2020. In: “Still Here. Moments in Isolation”, DISTANZ, 2021.

Auszug des Bildtextes:
“The contents include, but are not limited to:
Chewable Clorox.
The view from Liberace’s Bathroom.
Light Wave Therapy. …
High Entropy Breakfast.
Disco Creeps. …
Two State Solutions.
Lesbian Separatist Funk.
A Concrete Based Wellness Seminar.”
Beschreibend bis zynisch, bitter-böse bis ultimate fun. Oder schlicht: Ein Perspektivwechsel.

Das Bild zeigt eine Bildfolge der Architektin Jannina Bauer Grung, welche diverse Ausschnitte ihres Alltages zeigen.
Fannina Bauer Grung, 27_Mar_2020, Milan, Italy, 2020. In: “Still Here. Moments in Isolation”, DISTANZ, 2021.

“Cheap entertaintment – saying “hi” to the neighbors
2. Fresh flowers that have been the best delivery – by far …
4. Setting the table – for the sake of routine – order”
Fannina Bauer Grung beschreibt und bebildert Szenen ihres Alltages. Fokus auf das Nahe, “Kleine” und die darin liegende Ästhetik. Oder: Schönheit als “Keep me going”. 

Mendel Kahlen, Rediscovering stillness”, 2020, Detail. In: “Still Here. Moments in Isolation”, DISTANZ, 2021.

Das Werk des Neurowissenschaftlers Mendel Kaelen titelt “Rediscovering stillness”. Die Kombination der Worte, des Bildes, und der Profession ihres Urhebers bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Die Patisserie-Künstlerin Sophia Stoltz beschreibt in dem ihrem Bild nebenstehenden Text die Wohltat und Notwendigkeit des durch den Lockdown bedingten “Slowing down”. Zum Sich-Finden, Re-Fokussieren, Auftanken. Ihr Stillleben strahlt diese Leichtigkeit, Er-Leichterung aus. Bei dem gleichzeitigen Versprechen: We’ll be back.

Das Bild zeigt ein Stillleben der Patisserie-Künstlerin Sophia Stoltz, welches zwei Torten und diverse Spielzeug-Figuren in einem gemeinsamen Arrangement zeigt.
Sophia Stoltz, 23_Jul_2020, Vienna, Austria, 2020, Detail. In: “Still Here. Moments in Isolation”, DISTANZ, 2021.

In dieser Auswahl schlagen sich Charakter und Haltung, sowie eine Vorliebe für starke Farben der Autorin dieses Textes nieder. Selbstverständlich kann sie die Vielfalt aller Arbeiten in keiner Weise wiedergeben. Die Beiträge sind so verschieden wie die Beitragenden: Ironisch bis zynisch, positiv oder still-reflexiv, innovativ oder nah am klassischen Stillleben verhaftet. Sofern vorhanden, sind die Bildtexte für die Rezeption – das Verständnis – der Bilder essentiell. Die Arbeiten spiegeln die persönliche Wahrnehmung ihrer Urheber*innen. Und generieren visuelle, materielle und geistige Erkundungen. 

Tom Guiness, 20_Apr_2020, London, United Kingdom. In: “Still Here. Moments in Isolation”, DISTANZ, 2021.

Ungeachtet der Vielfalt strahlt das Buch eine nahezu metaphysische Ruhe aus. Die Reflexivität der Arbeiten wird angenehm im Layout des Buches aufgegriffen. Klassische Fonts lassen Raum für die Arbeiten und geben dennoch eine einheitliche Linie durch die verschiedenen Bildeindrücke hindurch. Der Einband in Pastellblau vermittelt Leichtigkeit trotz des beträchtlichen Umfangs des Buches. Format und leichte Anrauung des Papiers sorgen für eine gute Sichtbarkeit der Arbeiten und angenehme Haptik. Die digitalen Beiträge sind eine wahre Bereicherung. Allerdings bedürfte die Publikation unter üblichen Standards keines Extras. In den Worten der Franzosen: Sie sind die Kirsche auf der Torte. Mafalda Millies, Roya Sachs und Matthias Kliefoth ist, mit Hilfe aller Beitragenden, damit eine Buch-Ausstellung par excellence gelungen, welche als ästhetisches Archiv über ihre zeitliche Aktualität hinaus dauern wird.

“Still Here. Moments in Isolation” ist ein gemeinsames Projekt  von TRIADIC und dem DISTANZ-Verlag. Teile der Einnahmen kommen der nicht-kommerziellen Kunstorganisation Performa und dem BPA/ Berlin Artist Project zugute. Die Publikation ist über den Online-Shop des Distanz-Verlages, sowie in ausgewählten Buchläden erhältlich und kostet 44 Euro.