Tod als gemeinsame Basis
"You're Gonna Die" mit Daniel Spivakov

4. Juni 2021 • Text von

Die Bilder Daniel Spivakovs thematisieren Tod, Gewalt, Liebe und Empathie und untersuchen die Möglichkeiten von Farbe, Licht und Form. Mit Referenzen auf die klassische Kunstgeschichte von Piero della Francesca bis Philip Guston. Alltags-Bildkultur trifft Kunstgeschichte: Vorstellung einer neuen Generation.

Das Bild zeigt ein Kunstwerk der Künstlers Daniel Spivakov.
Daniel Spivakov, “The Good and the Bad, the Ecstasy, the Remorse and Sorrow, the People and the Places and how the Weather Was (over massacre)”, 2021. Courtesy of the artist and Stallmann, Berlin.

gallerytalk.net: Ein basic Start: Alle Arbeiten der Ausstellung sind auf bedrucktem Material gemalt. Was wurde ursprünglich gezeigt?
Daniel Spivakov: Für diese Arbeiten habe ich Bilder von Massakern verwendet. Ich habe sie durch Überbelichtung in der Mitte abstrahiert, und dann darauf gemalt. 

Wo hast Du die Bilder gefunden?
In verschiedenen digitalen Archiven. Es sind Bilder vom Holocaust, einige vom Vietnamkrieg. Aber ich wollte absolut nicht, dass sie identifizierbar sind. Es ging mir nicht darum, eine historische Aufzeichnung zu machen.

Warum hast Du dieses überhaupt Thema gewählt? Du hättest auch Blume nehmen können.
Als Bob Dylan gefragt wurde, warum er seinen ersten Song geschrieben hat, sagte er, zu dieser Zeit schien ihm die Welt nicht richtig, ohne dass diese Sache ausgesprochen wurde. Warum habe ich also gerade dieses Thema gewählt? Weil ich das Gefühl hatte, dass etwas unausgesprochen ist und adressiert werden muss. Es geht um den Schrecken, dem man begegnet, wenn man in ein Holocaust- oder Kriegsmuseum geht. Oft verlässt man es mit dem Gefühl, etwas gesehen zu haben, das passiert ist und mir selbst wahrscheinlich – hoffentlich – nicht passieren wird. Aber wenn man sich die Bilder [der Kriegsszenen, Anm. d. Red.] tatsächlich ansieht, gibt es einen Moment, in dem man das Gefühl hat, dass das Gesehene mit einem selbst passiert. Ich wollte diesen ersten Moment einfangen. Dafür musste ich die Bilder weniger erkennbar machen, sie sollten offen sein für die eigene Emotion. Im Wesentlichen hat es mit Empathie zu tun. 

Das Bild zeigt den Ausschnitt eines Gemäldes des Künstlers Daniel Spivakov.
Daniel Spivakov, “The Tick Had Scented the Blood (over massacre)”, detail, 2021. Courtesy of the artist and Stallmann, Berlin.

Es ist interessant, Du sprichst von Abstraktion. Für mich sind die Bilder gewaltig, aber nicht ausschließlich. Es ist immer auch etwas Positives darin, die Form einer Blume, “Liebe”. Wenn man sieht, wo sie herkommen, ist das bemerkenswert.
Ja, absolut. Hemingway schrieb einmal über seinen eigenen Schreibprozess: “Ich würde nie stocken oder nicht wissen, worüber ich schreiben soll. Weil ich wusste, ich muss nur einen wahren Satz sagen. Und dann würde der Rest folgen.” Mit meinen Bildern ist es ganz ähnlich. Ich wähle etwas aus, von dem ich glaube, dass es wahr ist. Und ich weiß nicht, ob es sich am Ende auflöst, oder ob ich diese Sache im Bild erkennen kann. Aber es hilft mir.  Ich versuche nicht, eine Geschichte zu erzählen oder jemandem beizubringen, wie er schauen soll – vielleicht versuche ich das auch. Aber im Wesentlichen geht es darum, etwas zu wählen, von dem man glaubt, dass es wahr ist. Und dann zu versuchen, jeden Schritt, jeden Pinselstrich oder jede Bewegung, die man auf dem Bild macht, wahr erscheinen zu lassen. Und ich weiß nicht, was wahr ist.

Man muss es fühlen.
Genau. Ich war dem Tod einige Male sehr nahe. Du versuchst dich zu erinnern, wie es sich angefühlt hat, deine tote Schwester oder einen toten Körper anzuschauen. Da ist eine Menge Liebe, Verzweiflung und Leere im Spiel. Im Grunde versuche ich, mich an diese Momente zu erinnern, wie die Luft gerochen hat; und dann versuche ich, das zu malen. 

Das verweist auf den Titel der Show, “You’re Gonna Die”. Ist das sarkastisch, neutral, herausfordernd, aggressiv gemeint?
Wie hat es sich für Dich angefühlt? Bevor und nachdem Du die Show gesehen hast.

Als ich es zum ersten Mal hörte, empfand ich es definitiv als Provokation: “You’re gonna die!” Aber im ersten Raum wird es zu einer ambivalenten, erschreckenden Aussage; und dann zu Erleichterung und Mitleid. Eher eine schlichte Feststellung: Du wirst sterben. Aber der Tod ist in allen Räumen präsent.
Ich mag es, dass die Räume so verschieden sind. Um auf die Frage zurückzukommen, ich denke, es ist eine lustige Aussage. Es gab diesen Komiker, Norm MacDonald. Und seine Punchline lautete: “Du wirst sterben!” Ich fand das ziemlich lustig. Er sagte diese sehr offensichtlichen Aussagen einfach so, als wären sie eine Neuigkeit. In der Vorbereitung der Ausstellung kam ich auf dieses Zitat: “Du wirst sterben. – Es sei denn, diese Bilder überzeugen dich vom Gegenteil.” Und ich dachte, das ist ziemlich gut: Man beginnt die Ausstellung mit einer Art gemeinsamer Übereinkunft über etwas sehr Offensichtliches, nämlich dass wir sterben werden. Und wenn die Bilder ihren Job machen, dann kommunizieren sie etwas. “You’re Gonna Die” ist eine gemeinsame Basis. Und es ist schön, wenn Leute kommen und die Kunst aus dieser Perspektive betrachten. Weg von zu viel Intellektualisierung.

Das Bild zeigt den Ausschnitt eines Gemäldes des Künstlers Daniel Spivakov.
Daniel Spivakov, “Untitled (over massacre)”, detail, 2021. Courtesy of the artist and Stallmann, Berlin.

Das bezieht sich auf einen anderen Aspekt: Ich denke, in Deinen Bildern geht es viel um Emotion. Die Werke der Ausstellung sind hauptsächlich in Schwarz und Weiß, Rot und etwas Gelb. Hast Du Dir bestimmte Gedanken zu den Farben gemacht? 
Farbe hat für mich immer einen Bezug zu den Dingen in der Welt. Ursprünglich sollten die Bilder keine Farbe enthalten, nur Schwarz und Weiß, und weiße Farbe darüber. Julian Schnabel brachte mich dazu, Farbe reinzubringen. Ich habe Isaiha gelesen – als guter Christen Mensch schlage ich die Bibel auf, wenn ich eine Farbe auswählen muss [lacht] – und versucht, eine Farbe zu finden. Eine Passage besagte: “Eure Sünden sind rot wie Scharlach, aber ich werde sie weiß machen wie Schnee.” Und ich habe beschlossen, dies als Motor für die Bilder zu nehmen. Rot hat offensichtliche Konnotationen: Blut, Blumen, Feuer. Es gibt eine kleine Skulptur in der Ausstellung. Es war mir sehr wichtig, sie mit einzubeziehen, um den Betrachter dazu zu bringen, Rot nicht nur als Farbe in einem abstrakten Gemälde zu sehen, sondern als Blut wie beim Nasenbluten. Bei Gelb habe ich an Licht gedacht. Farbe ist für mich keine formalistische Sache. Ich versuche herauszufinden, welche Beziehung und Assoziationen wir und ich zu bestimmten Farben haben, welche Geschichte; und dies für die Werke zu nutzen.

Du erwähnst die Bibel: Im letzten Raum gibt es zwei Gemälde, “St. Marie” und “Yah Yah”. Bei Letzterem musste ich in Verbindung mit “St. Marie” an Jesus denken.
Es könnte Jesus sein. Bei diesen Gemälden habe ich Bilder von unbekannten Leuten genommen. Es sind Polizeifotos, ein sehr spezielles Genre der Fotografie. Wenn man ein solches Foto sieht, denkt man unmittelbar: “Oh, das ist eine schlechte Person, die Person hat etwas getan.” Ich habe also diese Fotos genommen und Heilige daraus gemacht. Für mich sieht die Welt genauso aus: Die Dinge sind nicht austauschbar. Wenn wir gegenseitig Heilige in uns sehen würden, lebten wir in einer besseren Welt. Ich meine, Du bist heute aufgestanden, das alleine ist schon ziemlich hart. 

Da Bild zeigt eine Ausstellungsansicht der Ausstellung "You're gonna die" des Künstlers Daniel Spivakov in der Galerie Stallmann, Berlin.
“You’re gonna die”, Ausstellungsansicht. Courtesy of the artist and Stallmann, Berlin.

Ich sah den Raum als eine Art Passionsgeschichte. Da ist Jesus, seine Mutter, ein abstrahiertes Kreuz an der Wand. Und bei dem abstrakten Werk musste ich unmittelbar an eine Baby-Figur denken.
Es ist verblüffend, dass Du es so gesehen hast! Ich bin mit diesen Geschichten aufgewachsen, sie sind wahrscheinlich irgendwo in mir. “St. Marie” erinnerte mich an eines meiner Lieblingsgemälde, Piero della Francescas Jesus mit dem Blutschweiß. Und natürlich habe ich bei den Blutbildern an Caravaggios “Der ungläubige Thomas” gedacht, wo Jesus dem Thomas die Finger in die Wunde legt.

In vielen der Gemälde sind Fußabdrücke auf der Oberfläche zu sehen. Im Fall von “St. Marie” und “Yah Yah” scheint es, als ob diese Leute mit Füßen getreten würden. Ist das so?
Wenn ich Bilder male, denke ich immer, dass das Thema die Art und Weise ist, “wie” man etwas macht. Wenn Du Jesus malen möchtest, kommt es also nicht auf das Gesicht von Jesus an. Man kann ein Porträt von Jesus malen, ohne dass sein Gesicht darin vorkommt. Es geht darum, wie man etwas macht. Als ich diese Bilder auswählte, wusste ich, dass es sich so anfühlen muss, als ob man einen Heiligen unter den Füßen hat.

Um noch einmal auf die Baby-Figur zurückzukommen, die ich auch in einem anderen Bild gesehen habe: Was ist Dein Kommentar dazu? 
Ich persönlich weiß nicht, was es ist. Ich wusste, dass es eine Form gibt. Ich habe immer das kleine Tuch geliebt, in das die Babys eingewickelt sind, es sieht fast aus wie ein Knödel. In so vielen Gemälden, besonders in der frühen Renaissance, hat man diesen goldenen Hintergrund für die Luft, und dann diese sehr strengen Gesichter bei Giotto. Die Kleidung ist das, was das Bild ausmacht. Ein weißes Kleid oder ein blauer Mantel ist das, was Maria beschreibt. Für mich gibt es keinen Unterschied zwischen abstrakter und figurativer Malerei. Es gibt Gemälde, die unmittelbar erkennbar sind, und jene, die weniger leicht erkennbar sind. Aber es ist stets nur Farbe auf Leinwand. Und die Dinge sind austauschbar.

Das Bild zeigt den Künstler Daniel Spivakov.
Daniel Spivakov, 2021. Photo: Janine Sametzky für Beige.

Nehmen wir “Farbe” und “Leinwand” als Schlagworte, möchtest Du kurz etwas zu Deinem Material sagen? Du arbeitest hauptsächlich draußen, ist die Outdoor-Tauglichkeit für Dich von besonderer Bedeutung oder konzeptionellem Wert? 
Nein, absolut nicht. Ich drucke auf Vinyl und übermale es dann. Im Fall von “St. Marie” und “Yah Yah” habe ich ein Lösungsmittel verwendet, welches die Tinte auflöst, um ein “unfertigeres” Bild zu erhalten. Fotografien haben in der Regel eine Qualität, die man als Maler vermeiden sollte; eine Art von Flachheit oder sogar Stumpfheit. Als ich Vermeer zum ersten Mal sah, war ich begeistert, weil es sich anfühlt, als würde man nicht auf die Figur schauen, sondern auf die Luft zwischen einem selbst und der Figur. Im Grunde genommen erzeugte das Auflösen des Drucks einen ähnlichen Effekt, eine geisterhafte Präsenz zwischen Dir und dem Gesicht, das du betrachtest.

Meine Assoziationen zu den Bildern im ersten Raum waren “Konfrontation”, “Abwesenheit” und “Leere”. Georg Baselitz schrieb in seinen Pandämonischen Manifesten von 1963: “Die Negation ist eine Geste des Genies, nicht eine Quelle der Verantwortung.” Welchen Platz nimmt die Negation in Deiner Arbeit ein? 
Negation verstanden als: Es ist wichtiger, was man nicht sagt, als was man sagt? Absolut. Ich lebe und arbeite nach diesem Prinzip. Wenn Du eine Ausstellung mit dem Titel “You’re Gonna Die” beträtest, und es würden nur Bilder mit toten Körpern gezeigt, wäre der Eindruck unmittelbar verloren. Damien Hirst könnte das wahrscheinlich tun. Aber es geht darum, einen guten Trick zu machen, eine Erfahrung zu vermitteln. Ich interessiere mich mehr für das, was ich nicht gesehen habe. Nehmen wir zum Beispiel Christus: Wir alle haben nie einer Kreuzigung beigewohnt; Caravaggio hat Jesus nie gesehen. Aber er hat Bilder gemacht, bei denen man sich präsenter fühlt, als wenn man dabei gewesen wäre. Es ist realer als das Reale.

Daniel Spivakov in front of his paintings “I Am The Stolen Air”, 2019 (left), and “Didn’t Break Frank Sinatra’s Fingers, Didn’t Break Rita Haywoth’s Fingers, Didn’t Break Your Father’s Fingers, Didn’t Break Your Boyfriends Fingers”, 2019 (right). Courtesy of the artist and Stallmann.

Es ist wie in der Mathematik: minus und minus ergibt plus. Um noch einmal auf Baselitz zurückzukommen, für viele Deiner Arbeiten ist er eine feste Referenz. Im Deutschen gibt es den Ausdruck “sich abarbeiten an”. Arbeitest Du Dich an Baselitz ab?
Ich glaube, ich stehle von ihm. Im bestmöglichen Sinne der Kunstgeschichte. Könnte man sagen, dass Caravaggio Tizian beraubt hat? Sicherlich. Aber Caravaggio hat Caravaggios gemacht. Ich finde das persönlich sehr nützlich. Eine festere Referenz als Baselitz ist für mich Julian Schnabel. Wenn es keinen Schnabel gäbe, gäbe es keinen Spivakov. Er hat eine ganze visuelle Sprache geschaffen, die niemand wirklich anerkennt oder über die niemand spricht, vor allem nicht die Künstler*innen. Er hat einmal gesagt: “Die Leute denken, ich habe alles, also geben sie mir keine Preise.” In diesem Sinne lerne ich die Bildsprache von Julian Schnabel, teilweise von Baselitz. Aber Baselitz ist für mich interessanter als eine deutsche Persönlichkeit.

Ich würde weder sagen, dass Du die Bildsprache von irgendjemandem raubst oder lernst, sondern dass Du Deine eigene schaffst. Francis Bacon sagte, dass jeder Maler in seinem Werk die Kunstgeschichte neu verarbeitet. Ich denke eher an diese Lesart.
Um Neues zu schaffen, muss man rauben. Wer hat das noch mal gesagt: “Das Mittelmaß borgt, das Genie stiehlt”? Die Kunstgeschichte bewegt sich durch Raub. Raub ist das beste Kompliment, das man bekommen kann. Als Künstler habe ich keinen Stolz. Ich habe nur den Wunsch, gute Arbeit zu machen.

Um mit einem weiteren Zitat aus den Pandemonischen Manifestos zu schließen: “Ich bin die Vorhut meiner Reise.” Wohin führt Sie Deine Reise als Nächstes?
Im Herbst gibt es hoffentlich eine Ausstellung in der Salon RT Gallery in London. Abgesehen davon bin ich offen für Vorschläge. Aber ich mag es nicht, die Dinge zu sehr zu planen. Was für mich als Nächstes kommt, ist das nächste Gemälde. Nach diesem Prinzip lebe ich nun seit sechs Jahren. Und bis jetzt ist es die einzige Möglichkeit, wie ich existieren kann.

WANN: Die Ausstellung “You’re gonna die” läuft bis Samstag, den 6. August.
WO: Stallmann, Schillerstraße 70, 10627 Berlin.

Weitere Artikel aus Berlin