Hartschalenkoffer unter Glühbirnenbaum Yeşim Akdeniz bei Soy Capitán
11. April 2025 • Text von Lara Brörken
Menschen legen Wege zurück, ziehen ihre Koffer von A nach B. Manche Wege führen zu kurzweiliger Erholung, andere hinterlassen ein unsichtbar schweres Gepäck. So wandern die Geschichten, Traditionen und Güter um den Erdball und letztlich knackt jemand seine Erdnüsse auf einer Berliner Parkbank oder beißt genüsslich in sein Avocado-Toast für 15 Euro. Yeşim Akdeniz verzahnt in ihrer Soloausstellung bei Soy Captián ökonomische Bewegungen, Geschichten von Verdrängung und Identität.

Zwei Hartschalenkoffer liegen auf dem steinigen Boden, aus ihnen ragen verschlungene Metallstangen heraus, auf ihnen stehen schwarze Schuhe und drei Glühbirnen hängen an den Stangen wie Früchte an einem Obstbaum. Umgeben von gepolsterten Objekten an den Wänden, erinnert die Szenerie im Galerieraum an Urlaub und Großstadtbild zugleich. Szenen im gemütlichen Schein einer verschnörkelten Straßenlaterne ploppen vor dem inneren Auge auf, dazu mischt sich das Geräusch von schnellen Schritten auf dem Asphalt, der Geruch von Kerosin, eine fremde Matratze und das bittersüße Gefühl eines Abschieds. Yeşim Akdeniz‘ Arbeiten scheinen es lautlos in den Raum zu flüstern: Ihre Soloausstellung “Silent Strangers” bei Soy Capitán kreist um das Thema der Bewegung.

Immer wieder stellen sich die Fragen: Woher und wohin? Diese beiden Koffer stehen noch nicht lange still, an ihren Griffen hängt noch der Barcode des letzten Fluges, woher dieser kam, ist unklar, aber feststeht: hier her. Hier stehen sie nun und sind Füße einer in Istanbul handgeschmiedeten Lampe geworden. Akdeniz verbindet mit den Arbeiten ihrer Serie “New Faces in Town” handwerkliche Elemente mit dem Aspekt der Reise, der Verschiebung des Lebensmittelpunktes, aus welchen Gründen bleibt offen. Sei es ein Umzug oder eine Flucht, diese beiden Koffer können ganz mobil Licht ins Dunkle bringen, sind Symbole der Hoffnung auf die Möglichkeit, an neuen Orten Wurzeln schlagen und Früchte tragen zu können.
Apropos Wurzeln und Früchte: Im Erdreich gedeiht die Erdnuss. Sie ist eine von Akdeniz‘ Protagonistinnen, sitzt aus Silikon gegossen auf ihren gepolsterten Arbeiten “#8” und “#9” der Serie “TBA”. Die Erdnuss ist wortwörtlich eine Frucht, die an Wurzeln wächst, ein Symbol guter Integration? Das Bild ist schön. Die Erdnuss hat sich auch ökonomisch integriert, so ist sie mit Akdeniz auch als ein Symbol des globalen Handels zu verstehen. Ursprünglich beheimatet in den Anden, hat sich ihr Anbau breitflächig ausgebreitet. China und Indien gelten heute als die größten Produzenten der Erdnuss. Sie fehlt heute wohl auf keinem europäischen Weihnachtsteller.

Neben den gebetteten Silikon-Erdnüssen sind Metallplatten in das Polster geschraubt. Eine optische und haptische Spannung zwischen hart und weich entsteht. Die Köpfe der Schrauben gucken heraus, erinnern neben den Silkon-Erdnüssen an Nippel und ein körperlicher Aspekt mischt sich unter das Mechanische. Noch stärker wird das Körperliche mit dem dritten textilen Wandobjekt “TBA #7”, von dem sich auf orange-rosa Farbverlauf drei Silikon-Avocados übereinander reihen, neben sich immer eine schwarze Platte mit vorstehender runder Schraube. Die Rundungen der reichhaltigen Frucht erinnern an ein Brustimplantat, das in Form der Schraube ihren Brusthof outgesourct zu haben scheint, eine dekonstruierte Brust? Die Mutterbrust der Erde ist jedenfalls eher da zu verorten, wo die Avocado wächst. Und klar, nährreich ist die Avocado allemal, nur schadet ihr Weg zu uns der Erde nachhaltiger, als sie mit ihren Superfood-Kräften wieder gut machen kann. Ihr Import kurbelt die Dekonstruktion von Mutter Erde an.

Akdeniz verzahnt Mensch und Maschine scharfsinnig, setzt Besucher*innen mit “Brown und White Cipher” visuellen Rätseln aus, die es zu entschlüsseln gilt. Auf einem Grund aus Silikon kombiniert sie metallische Objekte wie Sägeblätter, Zahnräder und kunstvoll gearbeitete Beschläge. Das harte Metallische scheint dabei immer nah daran zu sein, in die Vulnerabilität des hautähnlichen Grundes einzuschneiden. Noch existiert das Humane harmonisch neben dem Industriellen, die Zahnräder scheinen gar aufzublühen und im Werk wie auch außerhalb bleibt die Verletzung bloß eine stetige Option. Der Mensch wird zur Grundlage eines laufenden Getriebes, seine Handlungen stets die Zähne des Zahnrades und sein Körper das, was als erstes zusammenzubrechen droht.
Die mögliche Verletzung, das zusammengehaltene Konstrukt und die Bewegung werden von Akdeniz‘ Arbeiten in verschiedenste Kontexte gehoben und kommen doch immer wieder bei den Individuen an. Von der kleinen Schraube hin zur Industrie, weiter zum Nippel, der die nächste Generation füttert. Mit ihrem “Self-Portrait as an Orientalist Carpet” setzt Akdeniz der Verkettung die Krone auf. Das großflächige textile Wandobjekt, bestehend aus drei großen Rollen auf einem aufwendig gesteppten Untergrund, erinnert an eine einrollbare Werkzeugtasche, an BDSM-Spielwiese und an orthopädische Nackenrolle. An ihm hängen 12 silbrigglänzende Gewürz-Streuer, die den Glanz einiger angenähter Ösen und Schnallen auf der Fläche aufgreifen. Assoziationen, die zunächst nicht zusammengehörig scheinen, passen doch wunderbar zusammen: Produktion, Handwerk, Körper, Gesundheit und Genuss.

Wo geht die Reise hin? Yeşim Akdeniz formuliert diese Frage objekthaft, beantwortet sie, wenn überhaupt irgendwo zwischen Koffer, Polster und Zahnrad mit “sie wird immer weitergehen”. Besucher*innen können sich mit ihrer Ausstellung “Silent Strangers” bei Soy Capitán ihrer eigenen Wege, ihrer Rolle im Konstrukt und ihrer Privilegien bewusst werden. Welche Stellschrauben können wir drehen? Wie können wir möglichst viel Haut vor Einschnitten schützen? Mit großen Fragen im Kopf und dem Rattern eines touristischen Rollkoffers im Ohr geht es wieder raus in die Welt. Die Straßenlaternen gehen an und es ist fast gemütlich inmitten des regen Treibens der Friedrichstraße.
WANN: Die Ausstellung “Silent Strangers” läuft noch bis Freitag, den 25. April.
WO: Soy Capitán, Lindenstraße 34, 10969 Berlin.