Selbstporträt als Baum
Yang Kailiang bei Tom Reichstein Contemporary

13. Juli 2020 • Text von

Hamburg hat einen neuen Kunstort – das Oberhafenquartier goes Galerieviertel: Bei Tom Reichstein Contemporary zeigt Yang Kailiang seine stimmungsvollen Baumporträts vor post-industrieller Hafenkulisse.

Installationsansicht Yang Kailiang “画 Malerei“ bei Tom Reichstein Contemporary. Drei großformatige Bilder mit Baumdarstellungen in Grün- und Grautönen vor weißer Wand in umgewidmeter Industriearchitektur.

Installationsansicht: Yang Kailiang,“画 Malerei“, Tom Reichstein Contemporary, Foto: Henning Rogge

Projekträume, Werkstätten, Fotoateliers, die Hanseatische Materialverwaltung, ein Restaurant – die langgezogenen Backsteinhallen des Oberhafenquartier erfreuen sich seit Jahren florierender kreativer Nutzung. Jetzt wird zwischen Großmarkt und Hafencity auch Gegenwartskunst gezeigt. Am 18. Juni hat Tom Reichstein Contemporary in den ehemaligen Güterhallen die Pforten geöffnet.

Am Eröffnungsabend herrschen draußen 30 Grad. Ich freue mich über sonnenwarmen Backstein und den industriellen Charme der alten Güterhallen. Dann ein Schritt durch die Tür des Galerieraums und es öffnet sich eine andere Welt. Gerade zu überzeitlich-ätherisch wirken sie, die großformatigen Gemälde von Yang Kailiang. Der aus Jinan/Shandong in China stammende und heute in Berlin und China tätige HBFK-Absolvent malt Bäume – mystisch, riesengroß und sehr abstrakt.

Die vernebelten Bildwelten, deren dunstige Ast- und Blattstrukturen sich von Leinwand zu Leinwand stärker vom Figürlichen lösen, stehen im herben Kontrast zum Hafenpanorama draußen vor der Fensterfront: die Großmarkthallen in graubetonierter Pracht, davor ein bilderbuch-gelber Bagger.

Ausstellungsansicht Yang Kailiang “画 Malerei“ bei Tom Reichstein Contemporary. Blick us dem Fenster auf die Großmarkthallen und eine Baustelle. Gemälde von Yang Kailiang im Vordergrund.

Tom Reichstein Contemporary: Yang Kailiang “画 Malerei“, Ausstellungsansicht, Foto: Martina John

Es ist ernste Kunst, die Yang Kailiang produziert, Malerei (so auch der schlichte Titel der Ausstellung), die sich ihres Mediums enorm bewusst ist und das im selbstbewusst im monumentalen Format demonstriert. Ein Querformat wie “Wachsender Baum 8” (2017) erstreckt sich schon einmal vier Meter in die Breite – das sind Leinwände, die eigentlich ins Museum wollen. Der weitläufige Raum von Tom Reichstein Contemporary geht schon einmal einen Schritt in diese Richtung.

Als Betrachter*in kann man sich verlieren in den Bildern: Eine angedeutete Landschaft, moorig und wie durch einen Nebelschleier betrachtet. Man erkennt eine Wasserfläche, in der eine knorrige Weide wächst, eher in die Breite als in die Höhe. Stamm und Äste sind mehr Schattenriss als Substanz, die Blätter nur noch hingehaucht. Eher der Geist eines Baumes als realistische Naturdarstellung oder impressionistisches Sonnenflirren im Blätterdach. Man kann das kitschig finden – Naturdarstellungen haben es schwer zwischen postmoderner Ironie und minimalistischer Pointiertheit – oder einmal tief durchatmen und sich auf einen Hauch Romantik aus dem 19. Jahrhundert einlassen.

Entsprechend kommt mir als erste Assoziation tatsächlich auch William Turner in den Kopf – so wie sich dessen Seestücke in Schaum und Licht und Abstraktion auflösen, scheinen auch Yangh Kailiangs Baumbilder im Transformationsprozess begriffen. “Wachsender Baum 21” und “22” sind eigentlich nur noch Farbe und Licht. Dass die weichgezeichneten Farbfläche einst den Blick ins Blätterdach darstellen sollten, ist fast nur noch über den Kontext nachvollziehbar.

Installationsansicht Yang Kailiang “画 Malerei“ bei Tom Reichstein Contemporary. Drei großformatige, hochkant-Bilder mit quasi-abstrakten Farbflächen in Grün- und Grautönen vor weißer Wand in umgewidmeter Industriearchitektur.

Installationsansicht: Yang Kailiang,“画 Malerei“, Tom Reichstein Contemporary, Foto: Henning Rogge

Seine großen Formate malt Yang Kailiang mit Acryl, die Farbe manipuliert er, indem er sie zum Beispiel abraspelt, verwischt oder unterschiedlich stark texturierte Leinwände ins Spiel bringt. In Hamburg hat der Künstler seine Arbeiten bisher nur in Gruppenausstellungen und in Off Spaces gezeigt. “画 Malerei“ ist seine erste große Einzelausstellung in der Hansestadt.

Galerist Tom Reichstein erzählt mir, dass der Künstler die stimmungsvollen Baumdarstellungen in gewisser Hinsicht auch als “Selbstporträt” sieht. Und dass Yang Kailiang in Hamburg manchmal Heimweh nach seiner Heimatprovinz in China verspürt, wo eben solche Weiden wachsen, wie sie auf den Bildern zu sehen sind. Ganz ähnliche Weiden hat der Künstler dann jedoch in hanseatischen Gefilden an der Alster entdeckt und malerisch festgehalten.

Installationsansicht Yang Kailiang “画 Malerei“ bei Tom Reichstein Contemporary. Überblick über umgewidmeten Industrieraum mit großer Fensterfront, hellem Boden und Gemälden links und rechts an den Wänden.

Installationsansicht: Yang Kailiang,“画 Malerei“, Tom Reichstein Contemporary, Foto: Henning Rogge

Yang Kailiang ist der erste Künstler, den Tom Reichstein im Oberhafenquartier ausstellt, aber das nächste Projekt ist bereits in Planung. Eine Künstlerin wird direkt im Ausstellungsraum arbeiten, Besucher*innen können den Entstehungsprozess der Werke hautnah mitverfolgen. “Viele Menschen haben gar keinen Einblick, wie Kunst überhaupt entsteht” meint der Galerist. Dementsprechend will er in seinem neuen Kunstraum den Atelierbesuch und die klassische Ausstellung verbinden.

Als Kunstort mit Anspruch sieht er seinen Space auch in Hinsicht auf die Lage: Tom Reichstein Contemporary bildet quasi das Ergänzungsstück zwischen der Kunstmeile am Hauptbahnhof und den Galerien im Kontorhausviertel. Entsprechend vermerken auch wir das Oberhafenquartier auf unserer mentalen Landkarte und freuen uns über die Ergänzung der Hamburger Kunstlandschaft.

WANN: Die Ausstellung von Yang Kailiang läuft noch bis zum 30. August 2020. Besichtigen könnt ihr täglich nach vorheriger Anmeldung über die Website
WO: Tom Reichstein Contemporary. Stockmeyerstr. 41, Halle 4J, 20457 Hamburg.

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