Verkündigung im Schneckentempo
Yaël Kempf im Kunsthaus Essen

18. Juli 2024 • Text von

Schnecken bahnen sich ihren Weg über einen Pilzkörper, haben womöglich Spuren im Gips hinterlassen, markieren, wo Tageslicht ins künstliche Dunkel einfällt. Im Kunsthaus Essen hat Yaël Kempf eine raumübergreifende Installation geschaffen, die persönliche sowie kollektive Erinnerungen miteinander verbindet und sich im Laufe der Ausstellung stetig weiterentwickelt. Text: Stella Baßenhoff.

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Installationsansicht Yaël Kempf “Annunciation”, Kunsthaus Essen. Foto: Isabel Hernandez.

Wenn man die Räumlichkeiten des Kunsthaus Essen im zweiten Obergeschoss betritt, fällt einem direkt ein Geruch auf, den man auf Anhieb nicht genau definieren mag. Welche Assoziationen kommen einem in den Sinn? Wald, Meer oder doch eine Wiese? Über drei Ausstellungsräume verteilt präsentiert die Künstlerin Yaël Kempf neue Arbeiten, die vor Ort entstanden sind. Es ist die erste Schau, die Katharina Bruns im Kunsthaus kuratiert hat, nachdem sie 2023 die Leitung übernommen hat.

Besucher:innen werden empfangen von einem mit warmem, rosa und gelbem Licht gefluteten Raum, der, wie auf dem ersten Blick festzustellen ist, durch mit Folie abgeklebte Fenster hervorgerufen wird. Es erinnert an das Licht von tageslichtdurchfluteten Fenstern von Kathedralen oder Kirchen. Hier lässt sich eine Verbindung zum Titel der Ausstellung „Annunciation“, auf Deutsch „Die Verkündigung“, herstellen. Dieser verweist auf ein gleichnamiges Werk des italienischen Renaissancemalers Francesco Del Cossa, auf dem das biblische Thema „Die Verkündigung“, also die Motivik des Erzengels Gabriel zu sehen ist, der Maria die Geburt Jesu verkündet.

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Yaël Kempf: “Samsa”, Installation, Algen 2024, Video 2019. Installationsansicht “Annunciation”, Kunsthaus Essen. Foto: Isabel Hernandez.

Über die Symboliken in diesem Gemälde wurde viel publiziert, unter anderem die der Schnecke, die sich am Bildrand des Werkes von Del Cossa befindet. Kempf nimmt sich diese Symbolik der Schnecke heraus und bearbeitet sie in ihrer Weise immer wieder in der Ausstellung. Sie nutzt die Schnecke „als Führer in eine poetische Erkundung“, wie sie sagt. Das langsame Fortbewegen des Tiers, eine zentrale Eigenschaft, soll als Inspiration dienen und zu einer intimeren Betrachtung einladen.

Platziert in einer in einem Wandbogen grottenähnlich anmutenden, aus Nori-Blättern hergestellten Installation etwa greift Kempf mit der Videoarbeit „Samsa“ das Motiv auf. Zu sehen sind Aufnahmen in der Natur, in der ein Mensch mit einem großen Schneckengehäuse am Körper allmählich in einem See verschwindet. Der Titel „Samsa“ ist angelegt an die Erzählung von Franz Kafka, in der sich der Protagonist, Gregor Samsa, in einen Käfer verwandelt.

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Yaël Kempf: “Wadjet Lamia”, Pilze, Algen, Schnecken, Bett, 2024. Installationsansicht “Annunciation”, Kunsthaus Essen. Foto: Isabel Hernandez.

Auch Gaston Bachelars Konzept der „Poetik des Raumes“ und sein gleichnamiges Buch aus dem Jahr 1958 haben Kempf zu ihren Arbeiten inspiriert. Der französische Philosoph erläutert in seinem Werk, dass ein Raum nicht nur ein materieller Rahmen sein muss, sondern auch ein Ort der Vorstellungskraft und Reflexion sein kann. „Nur mit Hilfe des Raumes, nur innerhalb des Raumes finden wir die schönen Fossilien der Dauer, konkretisiert durch lange Aufenthalte“, heißt es. „Das Unbewusste hält sich auf. Die Erinnerungen sind unbeweglich, und um so feststehender, je besser sie verräumlicht sind.“

Der Raum als ein Ort zum Verweilen und der Reflexion – so begreift auch Kempf ihren Ausstellungsraum. Darin verhandelt finden sich philosophische und spirituelle Fragen. Die Arbeit „Wadjet Lamia“ zeigt eine weibliche Figur aus Pilzen, die auf einem mit Algen bedecktem Bett liegt. „Wadjet“ bezieht sich auf eine alte ägyptische Göttin, die oft in Form einer Kobra dargestellt wird, während „Lamia“ auf eine griechische mythische Kreatur verweist. Auf dieser aus natürlichen Materialien befindlichen Installation, befinden sich lebende Schnecken, die sich im Laufe der Ausstellung ihre Wege über den Pilzkörper bahnen.

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Yaël Kempf: “Wadjet Lamia”, Pilze, Algen, Schnecken, Bett, 2024. Installationsansicht “Annunciation”, Kunsthaus Essen. Foto: Isabel Hernandez.

Aus dem Bauchnabel der „Wadjet Lamia“ erhebt sich eine Schlange, ebenfalls aus Pilzen bestehend, in Form einer liegenden Acht. Dies ist gleichzeitig das Symbol der Unendlichkeit oder auch des Lebenskreislaufs. Der Körper der „Wadjet Lamia“ ist Nährboden für die Schnecken, kleine Fliegen, sowie anderen Mikroorganismen. Die Pilze wird Kempf auch für kommende Arbeiten wiederverwenden.

In einem weiteren Raum zeigt Kempf den Kurzfilm „The Desert Surfer“. Der Film, der in Masada gedreht wurde, folgt einem Surfer, der in der Wüste nahe des Toten Meers, zwischen Jordanien, Palästina und Israel einsam mit einem Ball spielt. Das Ballspiel in der absoluten Einsamkeit der Wüste soll die täglichen Herausforderungen und Kämpfe symbolisieren, die Menschen in ihrer Lebenszeit erfahren und auszuhandeln haben. Als vor einer Pyramide ein Hundauftaucht, der den Surfer schweigend beobachtet, wird eine Spannung zwischen dem Menschen und der Umwelt bemerkbar.

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Yaël Kempf: “The Desert Surfer”, Video 2024. Installationsansicht “Annunciation”, Kunsthaus Essen. Foto: Isabel Hernandez.

Kempfs Film wird auf eine in zwei Hälften geteilte Gipswand projiziert. Auch hier taucht die Schnecke wieder auf. Auf den Projektionsflächen sind Spuren eingearbeitet, die an Schneckenspuren erinnern. Ebenso begegnet die Schnecke Besuchenden am Fenster des Raums, wo sie auf den dort angebrachten Gipsplatten ruht, die das Tageslicht fernhalten.

Was ist der Sinn des Menschen auf der Welt und was ist der des Seins im Allgemeinen? Welche Rolle nehmen wir in diesen Kreisläufen ein, die wir alle in unserem Leben durchlaufen? Mit ihrer Ausstellung im Kunsthaus Essen wirft Yaël Kempf immer wieder existenzielle Frage auf.

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Installationsansicht Yaël Kempf “Annunciation”, Kunsthaus Essen. Foto: Isabel Hernandez.

Hinter der Videoinstallation versteckt ist ein weiterer Körper aus Pilzen am Boden liegend zu sehen. Dieser stellt ein mystisches Wesen namens Cernnunos dar. Cernnunos ist eine Gottheit aus der keltischen Mythologie, die oft mit Geweihen dargestellt wird und die tiefe Verbindung zur Natur, Fruchtbarkeit und dem Zyklus des Lebens symbolisiert. Dieses Wesen wird oftmals mit dem wilden Leben, den Wäldern und Tieren verbunden. Kempf greift auch für die Darstellung dieses Wesens auf natürliche Materialien zurück und hebt so die Beziehung zwischen Mensch und Natur hervor.

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Yaël Kempf: “Cernunnos”, Pilze, Halskette, trockene Blume, Plastik, Plastikflasche, 2024. Installationsansicht “Annunciation”, Kunsthaus Essen. Foto: Isabel Hernandez.

Neben dieser Figur befinden sich außerdem eine Plastikflasche mit einem Hirschkopf, ein Strauß getrockneter Lilien und eine Militärkette, auf der steht: „Why should surfers be fed?“. Diese Frage stellte der belgische Philosoph Philippe van Parijs in einem Text aus dem Jahr 1991. „Why Surfers Should be Fed: The Liberal Case for an Unconditional Basic Income“ beschäftigt sich mit der Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen. Kempf versucht mit ihrer Installation zu einer Reflexion über grundlegende Bedürfnisse aller Menschen anzuregen. Dafür verbindet sie die Erzählungen alter Mythologien mit zeitgenössischen Themen, die in der Figur der „Cernnunos“ zum Ausdruck kommen sollen.

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Yaël Kempf: “Cernunnos”, Pilze, Halskette, trockene Blume, Plastik, Plastikflasche, 2024 (Detail). Installationsansicht “Annunciation”, Kunsthaus Essen. Foto: Isabel Hernandez.

Die Beschäftigung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur findet auch Ausdruck in der interaktiven Installation „My Deer“. Mit Videoaufnahmen und Bildern, etwa von Nachtsichtkameras, gibt sie einen Blick auf eine oft übersehene Tierwelt. Die Fotografien zeigen Rehe, Wildschweine oder Vögel, die sich in ihrem natürlichen Lebensraum bewegen. Eingegriffen wird in diesen nur mit Elementen wie einer aufblasbaren Puppe oder einem aufblasbaren Donut, die aber von den Lebewesen schnell angenommen werden. Kempf regt hier ein Nachdenken über die menschliche Interaktion mit der Natur an und erkundet die Möglichkeiten einer spielerischen Koexistenz.

Im selben Raum ist die Installation „The Dharma Bums“, ein Ensemble aus Plastik und Pilzen, zu sehen. Der Werktitel ist eine Anspielung auf das gleichnamige Buch des US-amerikanischen Schriftstellers Jack Kerouac. Darin thematisiert er eine spirituelle Reise und das Streben nach einem tieferen Verständnis des Lebens. Kempf versucht mit ihrer Arbeit eine Harmonie zwischen Mensch und Natur herzustellen: Die hier zusehenden Körper scheinen sich allmählich in Pilze zu verwandeln.

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Installationsansicht Yaël Kempf “Annunciation”, Kunsthaus Essen. Foto: Isabel Hernandez.

Yaël Kempf behandelt in ihrer Ausstellung existenzielle und philosophische Themen, mit denen sie sich fragend an die Gesellschaft wendet. Wie verhalten sich Mensch und Natur zueinander, welchen Einfluss haben wir auf diese Natur und wie können wir mehr in Einklang mit der Natur leben oder sogar von ihr lernen? Dazu passt ein Satz aus einer kürzlich erschienenen Theaterkolumne der Autorin Meli Kiyak: „Jetzt, genau jetzt, ist es an der Zeit den Waldboden anzuschauen. Mikrobetrachtungen über Moose, Flechten, Käfer festzuhalten. Denn irgendwer muss den Menschen zeigen, was am Ende aller Kriege und Kämpfe auf sie wartet.“

WANN: Die Ausstellung „Annunication“ von Yaël Kempf läuft bis Sonntag, den 21. Juli.
WO: Kunsthaus Essen, Rübezahlstraße 33, 45134 Essen.