Matriarchale Phantasien Yael Bartana im Interimsquartier der Villa Stuck
23. September 2024 • Text von Julia Anna Wittmann
Wäre die Welt eine bessere, wenn sie von Frauen regiert werden würde? Dieser Frage geht Yael Bartana in ihrer cineastischen Videoarbeit “Two Minutes To Midnight” nach, die im Interimquartiert VS der Villa Stuck zu sehen ist. Die Künstlerin inszeniert eine fiktive, rein weibliche Regierung, die auf eine akute nukleare Bedrohung Antworten finden muss.
In Yael Bartanas Videoarbeit “Two Minutes To Midnight”, die im Interimsquartiert VS der Villa Stuck zu sehen ist, kommen mehrere Frauen unterschiedlichen Alters und Herkunft in einem dunklen Raum ohne Fenster zusammen. Ein runder Tisch versammelt fünf Schauspielerinnen, die in die Rolle der Präsidentin und ihrer Ministerinnen einer nicht näher definierten Nation schlüpfen. Auf dem Tisch sind zahlreiche Wählscheibentelefone platziert, im Hintergrund ist das Ticken einer übergroßen Wanduhr zu vernehmen. Dichter Zigarrenraum zieht durch die Luft. Die Zeiger der Uhr stehen auf kurz vor zwölf – zwei Minuten vor Mitternacht.
Der Titel der Videoarbeit und der gleichnamigen Ausstellung “Two Minutes To Midnight” bezieht sich auf die Idee der Doomsday Clock, der Weltuntergangsuhr, auch Atomkriegsuhr genannt. Diese Uhr ist eine symbolische Zeitmessung, die 1974 von der Zeitschrift “Bulletin of the Atomic Scientists” gestartet wurde. Ziel war und ist es der Öffentlichkeit zu verdeutlichen, wie groß das Risiko einer globalen Katastrophe ist – zum Beispiel ausgelöst durch einen Atomkrieg. Bartana kreiert in “Two Minutes To Midnight” ein fiktives Szenario, in dem diese Katastrophe jeden Moment eintreten könnte. Eine verfeindete Nation droht mit dem Einsatz nuklearer Sprengköpfe.
Die Schauspielerinnen nehmen an dem runden Tisch ihren Platz ein. Sie finden sich in einem demokratischen “Peace Room”, einem Friedensraum wieder. Die ästhetische Gestaltung des abgedunkelten Raumes lehnt Bartana an den männlich geprägten “War Room” an, dem Kriegsraum aus Stanley Kubricks Satire über den Kalten Krieg “Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben”. Während in Kubricks Film aus dem Jahr 1964 lediglich Männer die politisch entscheidenden Positionen besetzen, ist in “Two Minutes To Midnight” der einzige Mann im Friedensraum ein halbnackter Kellner.
Ob die reine Umkehrung des patriarchalen Systems die Lösung aller Probleme darstellt, was genau eine feministische Außenpolitik ausmacht und wie auf die nukleare Bedrohung geantwortet werden soll, – all das besprechen die fiktiven Politikerinnen gemeinsam mit 40 realen Expertinnen. Bartanas Videoarbeit ist das Produkt eines vierjährigen Prozesses, in dem die Künstlerin eine Alternative zum männlich geprägten geopolitischen Machtdiskurs suchte. Die Filmaufnahmen setzen sich aus ihrer Live-Performance “What if Women Ruled the World?” aus dem Jahr 2017 und 2018 sowie der Performance “Bury Our Weapons, Not Our Bodies!” zusammen.
Zu Wort kommen reale Nobelpreisträgerinnen, Militärexpertinnen, Aktivistinnen und Politikerinnen, die zwar alle weiblich aber keinesfalls einer Meinung sind. Ein dynamisches Gespräch über beunruhigende Zukunftsszenarien entsteht, unterschiedliche Standpunkte werden gehört und analysiert. Für- und Gegenargumente für die nukleare Abrüstung werden vorgetragen. Absurde Momente der Komik brechen stilistisch mit dem vermeintlichen Ernst der Lage. Der halbnackte Kellner bringt frisches Obst, der Präsident der feindlichen Nation nennt sich “Mr. Twittler” und eine schwangere Ministerin singt ihrem Kind ein Wiegelied über das Staatstelefon.
In der realen Welt steht die Doomsday Clock aktuell auf 90 Minuten vor Mitternacht. Uns bleibt also noch weniger Zeit als in Yael Bartanas fiktivem Gedankenspiel. Mit Blick auf das derzeitige Weltgeschehen kann man sich durchaus die Frage stellen: Was wäre, wenn Frauen die Welt regieren würden? In Bartanas Videoarbeit “Two Minutes To Midnight” bleibt die Präsidentin am Ende der Besprechung alleine im Friedensraum zurück und schweigt. Eines kann jedoch festgehalten werden: Ihre Taten sprechen mehr als tausend Worte.
WANN: Die Ausstellung “Two Minutes To Midnight” eröffnet am Samstag, den 9. September, um 15 Uhr und ist bis Sonntag, den 20. Oktober, zu sehen.
WO: VS, Goethestraße 54, 80336 München.