Schmalz the pain away
Wong Pings "Earwax" im Times Art Center

14. März 2022 • Text von

Ohrenschmalz als Filter, als Türsteher vor dem Gehörgang, das wäre praktisch. Akustischer Dreck? Du kommst hier nicht rein. Wong Pings Soloshow “Earwax” im Times Art Center Berlin setzt das als ekelig konnotierte Sekret in einen anderen Kontext. Es bröckelt von der Wand, schießt als Pingpongball unkontrolliert in den Raum und pornografisch bohrt sich ein Q-Tipp unter die Haut. Ermächtige dich deines Schmalzes!

Crumbling Earwax, Wong Ping, Earwax, Filmstill, Times Art Center Berlin
Wong Ping, filmstill of Crumbling Earwax, 2022, 3-channel video installation, 11:9 and 16:9, stereo sound, 13 min., rock installation, commissioned by Times Art Center Berlin, courtesy of the artist.

Die Fassade des Times Art Centers Berlin ist nahezu komplett mit Wong Pings verzogenem, multiperspektivisch verschmolzenem Gesicht bedeckt. Ein Plakat klebt neben dem anderen. Sein Gesicht grinst Besucher*innen breit an. Es wirkt etwas unheimlich, mindestens skurril, wie sich das freche Sonnenbrillen-Gesicht Besucher*innen und Passant*innen zuwendet, das in zwei seitlich gezeigten kahlen Köpfen sitzt, so als hätte es sich in einem fremden Kopf eingenistet. So wie es dasitzt und zu feixen scheint, ist der Wille groß die wilden Gedanken in ihm hören zu können. Auf der Innenhofseite, der Rückseite des Gebäudes, kleben ebenso viele Plakate, diese zeigen Pings Hinterkopf.

Das Gebäude ist mit dieser Arbeit “Nail Wong Ping” nicht nur zum Kopf des Künstlers geworden, in den Besucher*innen hineinschauen und -horchen dürfen, sondern referiert gleichzeitig auf die Widerstandsgeschichte des Nail Houses in Shanghai. Der Besitzer desselben wehrte sich mit an der Fassade angenagelten Plakaten, die das Staatsoberhaupt abbildeten, gegen den Abriss seines alten Hauses, das für neue Hochhäuser weichen sollte. Ping hält in Berlin-Mitte seinen eigenen Kopf hin um dem Bezirk, der ganzen Stadt ihr Gentrifizierungsproblem vor Augen zu halten. Kultur, Kunst und Geschichten sollten nicht weichen müssen, auch das Times Art Center Berlin will noch lange bleiben.

Wong Ping liebt Hong Kong. Dieser Stadt entnimmt er all den Irrsinn, die Ideen, die Exzentrik. Hong Kong ist der Nährboden seiner Arbeit, die Großstadt seine Geräuschkulisse. Im Times Art Center Berlin lädt Ping zu einem Gehör-Gang ein. Eine riesengroße Ohrmuschel begrüßt jede*n Besucher*in in schillerndem korallenartigem Muster. Das Ohr hängt frei und mitten in dem aus Beton gegossenen, grauen Raum. Das Ohrläppchen schlackert vom entfernten Tunnelpiercing ausgeleiert herunter. An der Decke des Raumes verlaufen Rohre durch die in regelmäßigen Abständen ein Tischtennisball rollt. Jede Minute spuckt die Maschine einen Ball in den Raum, zielt auf das große Ohr, aber der Ball fliegt unkontrollierbar den äußeren Einflüssen entsprechend umher. Wie der Name der Installation sagt, ist das akustische Äußere, das tagtäglich seinen Weg in die Ohrmuschel sucht, das reinste “blah-blah-blah” – es gehört ungehört.

Wong Ping, blah-blah-blah, Installation, Skulptur mit Ohrmuschel und Pingpong-Maschine, Times Art center
Wong Ping, blah-blah-blah, 2022, copper ear sculpture and ping pong machines; installation dimensions variable, copper ear: 330 x 170 x 35 cm. Commissioned by Times Art Center Berlin. © Wong Ping Installation view at “Wong Ping: Ear Wax”, Times Art Center Berlin, 2022. Photo: Jens Ziehe, Berlin.

Über eine Treppe geht es direkt in den Betonraum hinunter. Unter dem Ohr stehend, von Ping Pong Bällen abgeklitzt, erscheint das Ohr unter Decke nahezu heilig überhöht. So klein ist der Mensch, so groß das Ohr. In der Größe der Ohrmuschel und ebenso in der Entscheidung es mit gedehntem Ohrläppchen darzustellen, verweist Ping auf religiöse, spirituelle Bedeutungszusammenhänge. Zum einen ist das vom körperlichen Zusammenhang gelöste Körperteil ein Verweis hin zu Votivgaben, die vor allem im katholischen Glauben als Symbole gekauft werden und mit einem Gelübde, Exvoto, in einer heiligen Stätte abgelegt werden. Meist nimmt die Bitte oder der Dank Bezug auf eine erwünschte oder erfolgte medizinische Heilung. Je nachdem welches Körperteil betroffen ist, wird die Votivgabe ausgewählt. Sie zeigen Herzen, Lungen, Augen, Gebeine oder auch Torso.

Andererseits gilt das große Ohr im Buddhismus als Zeichen von Weisheit, je größer das Ohr, desto mehr Weisheit vorhanden. Buddhas Ohrläppchen sind lang, weil er früher viel Schmuck trug, was auf Reichtum verweist, letztendlich verzichtete er jedoch darauf, so heißt es. Allein seine großen Ohren symbolisieren somit Reichtum, Weisheit wie auch Bescheidenheit. Das Dehnen von Ohrläppchen, oder auch Lippen, das Piercen allgemein hat eine sehr lange spirituelle Geschichte, bereits zu Zeiten der Azteken wurde im Zeichen der Tapferkeit und Weisheit fleißig gedehnt. Ping schließt in dem gedehnten Ohrläppchen aber genauso das Heute mit ein, die Gegenwart, in der er selbst sozialisiert wurde, in der der Fleshtunnel einen gewissen punkigen Coolnessfaktor hatte, eine Alltagsrebellion gegen das Establishment.

Das Ohr wirkt nach Außen, es ist Tragfläche einer soziokulturellen Aussage und gleichzeitig ein direkter Zugang zum Gehirn. Verschleimte Gänge schließen sich der Ohrmuschel an, feine Härchen haben die Macht über das eigene Gleichgewicht, was einsickert, was eingeflüstert wird kann verstören, aber auch erregen. Das Ohr ist permeable, erogene und vulnerable Zone, es ist außen und innen gleichzeitig. 

Crumbling Earwax, Wong Ping, Earwax, Installationview, Times Art Center Berlin
Wong Ping, Crumbling Earwax, 2022, 3-channel video installation, 11:9 and 16:9, stereo sound, 13 min, rock installation. Commissioned by Times Art Center Berlin. © Wong Ping Installation view at “Wong Ping: Ear Wax”, Times Art Center Berlin, 2022. Photo: Jens Ziehe, Berlin.

Über eine weitere Treppe können Besucher*innen noch ein Stockwerk tiefer gehen – tiefer in das Ohr hinein. Vorsicht, auch hier unten kann über verirrte Pingpongbälle gestolpert werden, denn so manch überhört gewünschter Blah-Ball hat sich seinen Weg doch tiefer in die Gehörgänge gebahnt. Lass sie dich nicht zu Fall bringen.

Hier unten in der Ohr-Höhle werden die skurrilen Gedanken des Fassaden-Gesichts tatsächlich hörbar, ob sie zu hören gewinnbringend ist, mag jede*r selbst entscheiden, sie sind jedenfalls wild. Im Video der 3-Kanal-Installation “Crumbling Earwax” spekuliert und referiert Pings Gesicht über Beethovens Taubheit und Tod, den bitteren Geschmack von Schmerz, er fragt: Ist die Nase irritiert, wenn du atmest? Ja. Und er verrät, dass beim Weinen 1.4 kcal und Lachen 3 kcal pro Minute verbrannt werden. 

Während diese seltsamen Informationen unkontrolliert in den Raum fallen, wie die Pingpongbälle aus der Maschine, zoomt die Kamera in das Ohr hinein wo ein weiteres Gesicht sitzt und Irritierendes erzählt. Ein Messer fliegt herbei und es droht blutig zu werden, es schneidet den Kopf ein und er entpuppt sich als hyperrealistischer Schichtkuchen – Erleichterung. In einer anderen Videopassage verbirgt sich ein Anus im Ohr, der Vergleich wirkt extrem, aber mal ehrlich, auch in diese Kanäle verirrt sich viel Scheiße. Würde der Titel der Ausstellung wörtlich aus dem Chinesischen übersetzt, würde sie “Ohrenscheiße” heißen, aber Ohrenschmalz ist da natürlich für alle etwas angenehmer. 

Crumbling Earwax, Wong Ping, Earwax, Filmstill, Times Art Center Berlin
Wong Ping, filmstill of Crumbling Earwax, 2022, 3-channel video installation, 11:9 and 16:9, stereo sound, 13 min., rock installation, commissioned by Times Art Center Berlin, courtesy of the artist.

Im Video heißt es, dass bei all dem Müll, der sich dem Trommelfell nähert, wichtig zu wissen sei, dass “only the earwax remains as wisdom – Do not rush to pick the earwax out”. Wer kann meide bitte den Q-Tip-Gebraucht. Hier bohrt sich das Stäbchen gänzlich in den Gehörgang hinein, es sitzt wie ein Wurm unter der Haut und tarnt sich darunter gut neben all den Venen und Adern, die sich unter der Kopfhaut abzeichnen. Ein nahezu pornografisches Moment. Es ist viel Haut zu sehen, viel Kopf, der plötzlich kein Kopf mehr ist, sondern Brust mit riesigen Nippeln. Über die hügelige Hautlandschaft fährt eine Art Eisenbahn aus “horny particles”.

Diese Videoinstallation liefert Besucher*innen irritierenden Informationen und Eindrücken aus, was wahr ist und was nicht ist nicht mehr zu unterscheiden. Beethoven hat doch keinen Selbstmord begangen, weil er taub war, oder doch? Wie der Kopf an sich überlappt hier auch jede andere Ebene. Will ich das hören? Kann ich das Gehörte einordnen? Nein, aber so ist das Leben nun mal. Dass viel Dreck herumliegt und genauso viel davon zu hören ist, kann hier maximal nachgespürt werden. 

Earwax, Wong Ping, Times Art Center, Crumbling Earwax filmstill, Installationsansicht  Blah blah blah
Wong Ping, filmstill of Crumbling Earwax, 2022, 3-channel video installation, 11:9 and 16:9, stereo sound, 13 min., rock installation, commissioned by Times Art Center Berlin, courtesy of the artist. // Wong Ping, blah-blah-blah, 2022, copper ear sculpture and ping pong machines; installation dimensions variable, copper ear: 330 x 170 x 35 cm. Commissioned by Times Art Center Berlin. © Wong Ping Installation view at “Wong Ping: Ear Wax”, Times Art Center Berlin, 2022. Photo: Jens Ziehe, Berlin.

Aus dem Ohr im Video bröckelt das Geröll heraus. Es befreit sich von dem Dreck und lädt es im realen Ausstellungsraum ab. Vor den Videoleinwänden hat sich das Geröll ausgebreitet, links neben ihnen in einer Raumecke hat es sich schon richtig angehäuft. Wie auf einer Müllkippe, wie Untertage, wie am Fuße eines Berges hat sich der Schutt gesammelt, der von dem Menschen abgesonderter Dreck. Es ist die erfolgreiche Arbeit des Ohrenschmalzes, der wie ein Türsteher funktioniert und aus dem Kopf holt, was allgemeines Unwohlsein auslöst.

Auftauchend aus diesem Ohreninneren, zurück zur Ohrmuschel fliegt ein Blahpingball spektakulär direkt durch den gedehnten Hauttunnel. Ping problematisiert mit “Earwax” die permanente Beschallung, den Informationsüberfluss und die Fragilität der Wahrheit auf humorvolle Weise. Er überfordert und fordert heraus gleichermaßen. Geschickt verknüpft er Innen und Außen, Stadt und Individuum, Sinn und Sinnloses. Die Schutzfunktion des Ohrenschmalzes wurde selten so deutlich, selten hat er sich so facettenreich zeigen können. Sehr eindrücklich wird mit Pings Kunst, dass das, was Menschen hören müssen oft ekliger ist, als der Schmalz, der sich in ihren Ohren sammelt. Von draußen dröhnt die Großstadt herein und aus Pings Kopf heraustretend fangen die Hände direkt an in der Tasche nach den noice-cancelling-Kopfhörern zu graben. 

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Sonntag, den 26. Juni.
WO: Times Art Center Berlin, Brunnenstraße 9, 10119 Berlin.

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