Wolfsburg erstrahlt im Feminismus Eine ganze Stadt zeigt FLINTA+ Künstler*innen
20. Oktober 2022 • Text von Carolin Kralapp
Das Kunstmuseum Wolfsburg und die Städtische Galerie zeigen gleich mehrere Ausstellungen, die ganz im Zeichen des Feminismus stehen. Alle Ausstellungsflächen der Stadt sind derzeit feministischen Positionen von FLINTA+ Künstler*innen gewidmet. Erfahrt hier, warum sich gerade jetzt ein Ausflug in die Volkswagenstadt lohnt.
Schon bei der Ankunft am Wolfsburger Hauptbahnhof begegnet man dem ersten Kunstwerk der feministischen Ausstellungsroute: “Brujas, Putas, Regalos de Dios” (= Hexen, Huren, Gottesgeschenke) von Künstlerin Anna Ehrenstein, die an drei Orten gleichzeitig in der Stadt gezeigt wird, in Zusammenarbeit mit der non-binären Künstler*in Will Fredo. Die Installation in der Kunst-Station erinnert an einen christlichen Andachtsraum und weckt Verknüpfungen zu sakralen Kontexten. Doch schaut man sich genau um, erkennt man schnell, dass wir es hier nicht mit Darstellungsformen einer traditionellen Kirche zu tun haben.
Der Wartebereich des Bahnhofs stellt vielmehr einen eindeutigen Gegenentwurf zur Tradition von Andachts- und Altarbildern, wie wir sie seit Jahrhunderten kennen, dar und kritisiert wie hinterfragt diese alte Darstellungsform. Als moderne Repräsentantin christlicher Heilsfiguren wird hier eine Performance-Künstlerin aus Brooklyn mit einer Trans-Aktivistin aus Bogota gezeigt. Die Installation fordert uns Betrachter*innen dazu auf, unsere Sehgewohnheiten kritisch zu hinterfragen und neu zu denken. Sie ist ebenso eine Aufforderung, diskriminierten und verdrängten Personengruppen unserer Gesellschaft Sichtbarkeit zu verschaffen und unseren Blick aktiv auf sie zu richten.
Angekommen im Kunstmuseum Wolfsburg, erwartet das Publikum dort die Ausstellung “Empowerment” mit etwa 100 künstlerischen Positionen, die einen internationalen Überblick über Kunst und Feminismen des 21. Jahrhunderts abbilden und sich in folgende sieben Themenfelder aufgliedern: Protest & Empowerment, Geschlecht & Identität, Her-stories & andere Narrative, Begehrte & Verletzte Körper, Die Arbeit des Sorgetragens, Planetarische Herausforderungen und Feministische Zukünfte. In den Kunstwerken werden diverse feministische Ansätze im Zusammenhang mit komplexen Themen wie sozialer Ungerechtigkeit, Sexismus, Rassismus, Migration, Antisemitismus, Umweltfragen und Technologie vielschichtig verhandelt.
Da eine scharfe Abgrenzung der künstlerischen Positionen nicht möglich ist, wurde die Ausstellungsarchitektur vom Berliner raumlabor so gestaltet, dass alle sieben Themenfelder fluide und übergreifend ineinander übergehen und miteinander in den Dialog treten können. So umfangreich wie die Themenfelder, sind auch die Medien, die im Kunstmuseum ausgestellt werden. Gezeigt werden künstlerische Arbeiten aus den Bereichen der Malerei, Skulpturen, Installationen, Fotografien, Videos und Performances.
Besonders einprägsame Arbeiten in der Ausstellung sind unter anderem die seit 2017 fortlaufende mehrteilige Videoinstallation “Labour [Arbeit]” von Candice Breitz, die Sequenzen von rückwärts abgespielten Geburten zeigt. Die Mütter haben ihr Einverständnis für die künstlerische Arbeit gegeben. Man tritt sehr nah an die Bildschirme heran und zieht hinter sich einen Vorhang zu, fotografieren und filmen ist nicht gestattet. Als Betrachter*in wird man hier förmlich ins Geschehen hineingezogen und schaut bei dem intimen Akt des Gebärens zu. Abzielen möchte die Künstlerin mit ihren Videos auf jene männlichen Politiker, die mit ihrem absolutistischen Führungsstil die Rechte von Frauen* einschränken.
Die Malerin Jenna Gribbon zeigt in ihrer Arbeit “Me, a Lurker” drei Frauen* beim Nacktbaden auf einer sattgrünen Wiese. Eine von ihnen hält die Situation fotografisch fest. Wir blicken auf eine Situation, in der alle Beteiligten entspannt und völlig gelöst zusammen sein können. Ein Moment der Sicherheit. Ebenso werden in der Ausstellung ausdrucksstarke Fotografien gezeigt, wie zum Beispiel die Reihe “Pow’Hair” von Laetitia Ky, in der die Künstlerin aufwendige Haarskulpturen kreiert, die von den Frisuren Schwarzer Frauen* aus vorkolonialer Zeit inspiriert sind. Für eines der Bilder hat sie die Haare zu muskulösen Oberarmen geformt – DIE Visualisierung des Begriffs “Empowerment”.
Aber auch die Fotografie “Untitled” aus der Serie “Listen” von Newsha Tavakolian, die eine professionelle iranische Sängerin auf einer Straße mit großen roten Boxhandschuhen zeigt, zieht den Blick der Betrachter*innen auf sich. Das Foto-Projekt bezieht sich auf die islamischen Vorschriften seit der Revolution von 1979, die besagen, dass weibliche Sänger*innen weder alleine auftreten noch ihre eigenen CDs produzieren dürfen. Pipilotti Rist erkundet in ihrer Arbeit “Ginas Mobile” lustvoll die Vulva und geht künstlerisch den Fragen nach, was eigentlich bei Berührungen, Küssen oder einem Orgasmus mit dem Körper passiert. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität als ein befreiender Akt der Selbstbestimmung und Selbstermächtigung.
Frauen* und die LGBTQIA+-Community sind auch im 21. Jahrhundert vielerorts noch Macht- und Ungleichheitsstrukturen, Diskriminierung, Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt. Feminismen, wie sie hier im Kunstmuseum Wolfsburg auf einer großen Ausstellungsfläche zusammenkommen, sind Forderungen auf das Recht der Selbstbestimmung für alle Geschlechter, das Recht auf Freiheit und Gleichheit. Es ist eine vielschichtige Ausstellung, die nicht nur ein diverses Spektrum an künstlerischen Positionen präsentiert, sondern gleichzeitig auch eine Vielstimmigkeit zu feministischen, sexistischen und rassistischen Themen offenbart, die in dem breiten Feld des “Empowerment”-Begriffs angesiedelt sind.
Die Städtische Galerie im Wolfsburger Schloss, die nächste Station der feministischen Route, zeigt auf mehreren Etagen die Ausstellungen “WE ARE – Feminismus gehört uns allen” und “WO/MEN”, die sich mit der Lebensrealität von Frauen* im öffentlichen wie privaten Raum mit besonderem Bezug auf die Stadt Wolfsburg auseinandersetzen. In Videos, die in einem abgetrennten Raum gezeigt werden, berichten Frauen* anonym von persönlichen Erfahrungen, Situationen, in denen sie erniedrigt oder sexuell missbraucht wurden. Auch Besucher*innen können sich aktiv beteiligen und in einem geschützten Rahmen ihre Erfahrungen teilen.
In einem anderen Video sprechen Frauen* aus Wolfsburg über das Verhältnis zu ihren Müttern. An einer weiteren interaktiven Station werden Besucher*innen eingeladen, sich selbst zu reflektieren und Fragen zur eigenen Geschlechteridentität, Gefühlslage und bestehenden Rollenbildern zu beantworten und mithilfe von farbigen Wollfäden zu visualisieren.
Die Ausstellungen stellen einen Bezug zu Wolfsburg als Arbeiterstadt her, zeigen Fotografien aus dem Arbeitsalltag von Frauen* bei Volkswagen oder während der Care-Arbeit und zeigen Statistiken auf, wie viel Zeit Frauen* beispielsweise im direkten Vergleich im Durchschnitt für das Berufsleben oder die Kinderbetreuung aufwenden. Mit dem aktuellen Ausstellungsgeschehen setzt die Stadt ein klares Zeichen und zeigt auf, wie auch institutionsübergreifend das Thema Feminismus verhandelt werden kann.
Feminismen, Fragen der Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Diskriminierung bieten zahlreiche Annäherungs- und Anknüpfungspunkte, denen in Wolfsburg derzeit viel Raum und Sichtbarkeit gegeben wird. An diesem Ausstellungsprogramm wird wieder einmal mehr deutlich, dass es die Aufgabe der Kunst ist, auf Ungerechtigkeiten und Missstände hinzuweisen – es sind Reflektionen unserer Gesellschaft und Gegenwart. Und die ist eben noch weit davon entfernt, eine gleichberechtigte zu sein.
Wem dieses Angebot in Wolfsburg noch nicht reicht, kann sowohl dem Kunstverein im Schloss – ebenfalls offizieller Kooperationspartner der feministischen Route – und der aktuellen Ausstellung “Diverse Realities” von Tamiko Thiel als auch Junge Kunst Wolfsburg und der Ausstellung “Linie aus zwei Meinungen” von Solweig de Barry einen Besuch abstatten.
Frauen*: Damit sind nicht nur Frauen angesprochen, die sich als weiblich identifizieren und mit den weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden, sondern auch alle, die, unabhängig von ihrer geschlechtlichen Identität, als weiblich gelesen werden oder gelesen werden möchten.
WANN: Die Kunst-Station am Hauptbahnhof mit Anna Ehrenstein & Will Fredo könnt ihr bis zum 12. März 2023 besuchen, die Ausstellungen in der Städtischen Galerie bis zum 8. Januar 2023 und “Empowerment” im Kunstmuseum Wolfsburg ebenfalls bis zum 8. Januar 2023.
WO: Kunst-Station, Hauptbahnhof Wolfsburg, 38440 Wolfsburg, Städtische Galerie Wolfsburg, Schlossstraße 8, 38448 Wolfsburg & Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, 38440 Wolfsburg.