Wirklichkeit neu denken
Tim Berresheims "Bilderreise" im Heinsberger Land

4. November 2021 • Text von

Was lauert da im Verborgenen? Im Heinsberger Land nimmt uns Tim Berresheim mit auf eine “Bilderreise” durch seine Heimat. Mittels App lassen sich auf dem digitalen Endgerät imposante Kunstwerke abrufen, die sich genuin in die idyllische Natur einfügen und die vorhandene Realität erweitern. Moderne Höchsttechnologie schickt den Blick an 14 Orten auf Wanderschaft durch bisher digital unergründetes Terrain.

“Tim Berresheims Bilderreise”, “Transit Souvenir”, Station 6, © Tim Berresheim.

Vor der Kulisse rot-goldenen Herbstlaubs und steinerner Burgruinen, vor spiegelnden Himmelsteichen und scheinbar endloser Felder Weite liegt im Kreis Heinsberg Kunst verborgen, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, sich dem kundigen Auge allein durch eine spezielle App offenbart. Innerhalb derer führt die Route von „Tim Berresheims Bilderreise“ in 90 Kilometern durch die Wälder, Felder und Städte der Region, können die Kunstwerke wahlweise mit dem Fahrrad oder zu Fuß erkundet werden. Immer wieder tauchen Wegpunkte in der GPS basierten App auf, kleine rote Fahnen, die den Reisenden den richtigen Pfad zeigen, sie als im kunstnahen Radius befindlich ausweisen. Dann ganz plötzlich öffnet sich ein Hinweis, lässt sich mit einem Klick auf den Handybildschirm Kunst inmitten der Natur entdecken. Augmented Reality nennt sich diese computergenerierte Erweiterung der Realität, die allein eines digitalen Endgeräts zum vollumfänglichen Erlebnis bedarf.

“Tim Berresheims Bilderreise”, “Die Ahnung der falschen Glocke”, Station 5, © Tim Berresheim.

Zitronen, Äpfel, Kastanien, Tarotkarten, Holzstücke schweben vor dem Panorama der Tüschenbroicher Mühle wie schwerelos über dem Grund, lassen sich von allen Seiten besehen und gänzlich umrunden. Verblüffend echt wirkt dabei die bunte Oberfläche der dreidimensionalen Objekte, deren Texturen sich mit den Augen beinah haptisch begreifen lassen. Was ist real, was Fiktion, wenn sich die wundersam erscheinenden und auf gleichsame Art verschwindenden Gebilde mittels in der App eingebauten Tools fotografieren, filmen und in sozialen Netzwerken teilen lassen?

“Tim Berresheims Bilderreise”, “Überblick mit Wegzehrung”, Station 13, © Tim Berresheim.

Auf dem Heinsberger Kirchberg wachsen vor der hintergründig vom Licht der untergehenden Sonne beleuchteten Burgruine und der Silhouette der St.-Gangolf-Kirche organisch anmutende Gebilde in die Höhe, regnet es über eine alte Eisenbahnschiene Obst und Backwerk, ist alles im Fluss, bewegt sich und pulsiert. Vieles lässt sich in die Motive hineininterpretieren, wirken sie doch wie mit Bedeutung aufgeladene Allegorien. Schnell drängen sich regionale Assoziationen, biografische Anknüpfungspunkte auf, sind die Werke von Tim Berresheim in ihrer Mehrdeutigkeit aber schwerlich zu erfassen. Sie rühren emotional an, sind Ausdruck einer neuartigen Sprache der Form. Eine neue Sprache zu Zeiten einer digitalen Transit-Situation, fernab alter Narrative als Relikte einer überkommenen Zeit.

“Tim Berresheims Bilderreise”, “Ahnung vom Großen Haus”, Station 7, © Tim Berresheim.

Berresheim ist dabei kein Künstler im klassischen Sinne, ist vielmehr Bildforscher, beschreibt sein Schaffen selbst als ästhetische Praxis mit hoher Kunstähnlichkeit. Es lässt sich als eine Form von “Artistic research” beschreiben, künstlerische Praxis als Prozess des Erkenntnisgewinns. Seit zwanzig Jahren Pionier computergenerierter Kunst ist sein Werk Zeugnis einer andauernden Forschungsreise auf bisher kaum ergründetem Terrain. Mit der Bilderreise nimmt er uns nun in seine eigene Heimat mit, da er selbst in Heinsberg geboren und in Wassenberg aufgewachsen ist, derzeit in Aachen lebt. In seinem Aachener Atelier, den Studios New America, arbeitsteilig hergestellt, entstand eine Serie von Bildern, die auf dem Scannen, Vermessen und Kartographieren der Schauplätze basiert und von einem Grafik-Zyklus flankiert wird. Die App führt die Interessierten zuverlässig an die wichtigsten regionalgeschichtlichen Schauplätze der Region, die zugleich biografische Wegmarken sind und macht jene Bilder sinnlich erlebbar. Berresheim entlehnt hier die Welt als formbares Material, als Gestaltungsmasse, um neue Möglichkeitsräume im Bekannten zu schaffen.

“Tim Berresheims Bilderreise”, “Die Ahnung der falschen Glocke”, Station 5, © Tim Berresheim.

Die Bilderreise rührt aus einer tiefgreifenden Beschäftigung mit der eigenen Heimat, mit den eigenen Wurzeln, die immer schon kraftspendender Ankerpunkt im Werk von Berresheim waren. Als direkte Vorstufe ist in diesem Zusammenhang der dritte Teil des Ausstellungs- und Werkzyklus “Aus alter Wurzel neue Kraft” zu begreifen, der bereits eine intensive Auseinandersetzung mit dem Heinsberger Land erforderte. Immer wieder flammt die öffentliche Debatte rund um den diffusen, vage umrissenen Begriff Heimat auf, wird von aktuellen Diskursen neu angefacht. Was ist Heimat? Sie lässt sich als etwas vertrautes, kaum fassbares beschreiben, als ein bunt gemusterter Ort, der ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt. Oftmals ist es ein Ort, der sich in seiner ursprünglichen Form allein in der Erinnerung begehen lässt, innerhalb dessen sich Schauplätze aus Kindheit und Jugend wie selbstverständlich übereinander legen und verschränken. Ein Ort, der digital neu gedacht werden kann, dessen besonderer Reiz es ist, noch nie zuvor im digitalen Raum stattgefunden zu haben. Berresheim beschreitet mit der Hinwendung zum Heinsberger Land alte Pfade neu, lässt neue Perspektiven auf Altbekanntes zu.

“Tim Berresheims Bilderreise”, “Auge und Weltbild”, Station 14, © Tim Berresheim.

Berresheims Kunst ist eine Kunst, die stets seine Handschrift trägt, zugleich jedoch auch von ihm losgelöst funktioniert, an eine Zielvorstellung gebunden und doch im Ergebnis offen ist. Es ist die Vermessung des Ist-Zustands, eines neutralen Wertes, den Berresheim ins Digitale und ins Narrativ eines Was-wäre-wenn überträgt. Keine illusionistische Parallelwelt entsteht, sondern ein an Bestehendes anknüpfender Ort voller neuer Möglichkeiten, der unseren gängigen Wahrnehmungsapparat ergänzt. Eine im besten Sinne erweiterte Realität.

WANN: „Tim Berresheims Bilderreise“ erstreckt sich als permanente Fahrradroute durch das Heinsberger Land.
WO: An 14 Stationen lässt sich im Kreis Heinsberg mit der Augmented-Reality-App „TB – Bilderreise AR“ digitale Kunst entdecken (kostenlos im App Store und bei Google Play).