Wie wollen wir zusammenleben? Anna Ehrenstein bei C/O Berlin
17. April 2021 • Text von Anna Meinecke
Anna Ehrenstein ist Expertin für gelungene Kollaboration. Aus einer solchen sind auch die Arbeiten für ihre Ausstellung “Tools for Conviviality” bei C/O Berlin entstanden. Uns erzählt die Künstlerin, wie so ein Zusammenleben aussehen kann, wie man anderen auf Augenhöhe begegnet und welche Rolle Technologie für ein Miteinander spielen kann.
gallerytalk.net: Du hast mit KOW jüngst eine tolle Galerie gefunden, bei C/O Berlin ist deine erste institutionelle Einzelausstellung angelaufen – man würde sagen, es läuft gerade richtig gut bei dir. Fühlt sich das auch so an?
Anna Ehrenstein: Ich weiß es extrem zu schätzen, wie viele Leute an meine Praxis glauben und in mich investieren. Deswegen fühle ich mich auf jeden Fall absolut erfolgreich. Ich habe mich aber auch schon erfolgreich gefühlt, als ich meine erste Einzelausstellung nach dem Studium hatte. Das ist jetzt fünf Jahre her. Ich glaube, das Gefühl von Erfolg ist an Wertschätzung geknüpft. Ich hoffe, dass ich auch noch in ein paar Jahren sagen kann: Geil, dass ihr alle so Bock habt, mit mir zu arbeiten.
Kannst du deine Erfolge genießen oder zählst du eher zu den Getriebenen?
Mit dem Genießen ist das so eine Sache. Ich nehme mir immer wieder vor, der Langeweile als antikapitalistisches Gut zu frönen. Das ist aber natürlich schwierig, wenn man bedenkt, dass die ersten zehn Jahre künstlerische Praxis stark davon geprägt sind, ob deine Eltern dir deine Miete zahlen können oder nicht. Ich habe immer auch andere Jobs machen müssen. Erst seit dem letzten Jahr arbeite ich nicht mehr unbezahlt– oder nur in ganz, ganz seltenen Ausnahmen. Vorher habe ich auch mal für umgerechnet 1,80 Euro pro Stunde Vollzeit gearbeitet, um die nötigen Referenzen etwa von bestimmten Institutionen zu sammeln.
Findest du, es wird zu wenig über die ungleichen Startvoraussetzungen für Künstler*innen und andere Akteur*innen des Kunstbetriebs gesprochen?
Ja, auf jeden Fall. Wir sprechen zu wenig über die Aufmerksamkeitsökonomie, über die der Kunstmarkt funktioniert. Anders als Prozesse von Rassifizierung sind Prozesse monetärer Ausgrenzung nicht unbedingt sichtbar. Dass eine Person kein Geld hat oder eben doch, sieht man ihr nicht an – vor allen Dingen in einer Stadt wie Berlin, in der „arm aber sexy“ gilt. Viele Leute performen hier eine Art Klassenaneignung. Die Eltern finanzieren ihnen die Wohnung, während sie Aldi-Tüte tragen. Es ändert sich glücklicherweise gerade schon ein bisschen was. Aber wir sprechen hier über große strukturelle Probleme. Der Großteil der künstlerischen Institutionen hierzulande beschäftigt nicht mehr als 20 Prozent Personen aus der unteren Mittel- und aus der Arbeiterklasse oder mit Migrationshintergrund. Dabei machen die deutlich mehr als 20 Prozent unserer Gesamtgesellschaft aus. Da fehlt es an Repräsentation.
Du bist mit dem C/O Berlin Talent Award ausgezeichnet worden. Honoriert wird da natürlich mehr als einfach nur Talent. Mich interessiert trotzdem: Wo in deiner Kunst kommt denn ganz pures Talent im eigentlichen Wortsinn zum Vorschein?
Das ist gerade ein bisschen wie beim Speed Dating, wo man in zwei Minuten seine geilen Charaktereigenschaften benennen muss: Ich kann gut kochen, gut twerken … (lacht). Ich glaube, ich habe ein Talent dafür, die Schnittstellen von sogenannten Hoch- und Massenkulturen zu finden und über Referenzen zu Pop über kritische Theorie zu sprechen. Ich kann in ganz unterschiedlichen Situationen mit verschiedenen Gruppen von Leuten zusammenarbeiten und ich vernetze gerne. Abgesehen von etwas Misanthropie ob der politischen Zustände empfinde ich einfach extrem viel Liebe für Menschen. Und dann habe ich natürlich noch voll das Gespür für Ästhetik – also so richtig! (grinst)
„New Documentary Strategies“ ist das Thema des Awards. Dokumentarfotografie hätte sich mir als Schublade für deine Arbeit jetzt erstmal nicht aufgedrängt. Inwiefern ist dein Ansatz ein dokumentarischer?
Ich arbeite mit echten Menschen und nicht mit Models oder Schauspielern. Allerdings ist das Dokumentarische dann Basis für Fiktion. Klassische dokumentarische Narrationen versuchen, an eine universelle Wahrheit zu kommen. Ich sage nicht, dass es objektiv keine Wahrheit gibt, aber ich sehe Realität als etwas Prozesshaftes und Konstruiertes. Das versuche ich, mit meiner Arbeit sichtbar zu machen.
Und du wirst ja auch oft selbst Teil deiner Arbeit, bei C/O bist du zum Beispiel mehrfach in deiner 360°-Video-Arbeit zu sehen.
Damit erkläre ich quasi visuell: Das ist eine Idee, die aus diesem Körper mit dieser bestimmten Art von Geschichte kommt. Ich kann kein Urteil bilden über Kontexte, die nicht meine eigenen sind, aber ich kann Gespräche mit Menschen führen. Dass man mal für eine Woche irgendwo hinfahren und das dann schriftlich oder durch Fotografie dokumentarisch bearbeiten kann, ist eine extrem koloniale Vorstellung.
Womit wir auch schon bei meinem Lieblingsthema wären: Kollaboration. Der Begriff scheint gegenwärtig extrem überstrapaziert, deswegen erklär doch mal, wie du ihn verstehst. Welche Voraussetzungen hat wirkliche Kollaboration?
Kollaboration kann nur stattfinden, wenn man die Machtungleichheiten anerkennt, die unsere Existenz ausmachen. In Gesprächen, durch respektvollen Umgang und über tatsächlich gemeinsame inhaltliche Arbeit können diese Differenzen überkommen werden. Das heißt auf gut Deutsch, wenn ich irgendwo hingehe und sage: „Hey, ich brauche euch für die und die Idee, macht ihr mit?“ und wir haben die Idee nicht gemeinsam erarbeitet, dann ist das keine Kollaboration und dann muss man es auch nicht Kollaboration nennen, nur weil da Leute mitmachen. Dann sollte man sie einfach bezahlen.
Was kann denn Kollaboration leisten? Und vielleicht auch: Was nicht?
Durch Kollaboration kann man sich extrem überraschen lassen. Oft haben andere Leute bessere Ideen als man selbst. Statt ewig mit sich selbst zu kämpfen, kann man diese Ideen gegen die eigenen ausarbeiten. Kollaboration bedeutet aber nicht, dass man dadurch andere Leute repräsentieren kann. Nur weil ich mit jemandem zusammenarbeite, heißt das nicht, dass ich dessen Lebensrealität verstanden habe.
Für deine Ausstellung im C/O hast du mit Kunst- und Kulturschaffenden aus der senegalesischen Hauptstadt Dakar zusammengearbeitet. Wie lief das ab?
Für mich war es das erste Mal, dass ich im westafrikanischen Kontext gearbeitet habe. Ich wusste, dass ich eine Kollaboration machen will. Also habe ich einfach Leute angeschrieben. Alle waren irgendwie Teil der erweiterten Kreativwelt vor Ort, alle hatten Migrationserfahrung. Wir haben uns dann in Dakar getroffen, viel in Cafés rumgesessen und geschnackt. Wir haben gemeinsam überlegt, welche Art von Projekten wir umsetzen wollen. Mir war wichtig, dass es allen Beteiligten etwas bringt. Ich hatte zu der Zeit wenig Geld, aber ich konnte statt ökonomischem Kapital mein kulturelles Kapital einbringen. Daraus sind auch viele Dinge entstanden, die nicht Teil der Ausstellung bei C/O geworden sind, Shootings zum Beispiel. Erst nachdem ich mich etwa ein halbes Jahr in vielen Gesprächen mit den Menschen und dem Kontext auseinandergesetzt hatte, habe ich das eigentliche Konzept für das Projekt geschrieben.
Du hast gesagt, Kollaborationen haben das Potenzial, zu überraschen. Was hat dich bei diesem Projekt positiv überrascht?
Die Leute natürlich. Nach über drei Jahren Zusammenarbeit sind viele von ihnen wie Familie für mich geworden. Und es kamen immer wieder Menschen dazu, die das Projekt noch größer, noch spannender und noch diverser gemacht haben. Was mich total geflasht hat, war eine Idee von Manden von Donkafele. Er hat vorgeschlagen, unsere Arbeiten auf Shirts zu drucken. Das macht natürlich total Sinn für das Modekollektiv, aber die geniale Idee war, die Shirts „ambulant artworks“ zu nennen. Er wollte, dass diese Kunstwerke in die Stadt hineingetragen werden und sich durch Dakar bewegen. In Dakar gibt es wie in vielen Ländern des globalen Südens relativ viele „ambulant vendors“, also Verkäufer, die durch die Stadt laufen. Und ein Shirt, das aus dem Kunstkontext kommt, ist ein mobiles Kunstwerk. Da hat es bei mir direkt „klick“ gemacht!
Den Ausstellungstitel „Tools for Conviviality“ hast du dir beim Philosophen und Theologen Ivan Illich geliehen. Was ist das für ein Zusammenleben, dass Illich sich, dass du dir vorstellst?
Ich bin über Paul Gilroy, einen Critical Race Scholar, auf seine Arbeit gestoßen. Gilroy übt unter anderem Kritik am Multikulturalismus und setzt ihm die Idee der Konvivialität entgegen. Dabei gibt es nicht länger eine dominante Kultur, in die es sich zu integrieren gilt, sondern ein horizontales Miteinander auf Augenhöhe und ein sich gegenseitig beeinflussendes Zusammenleben ohne Hegemonialmacht.
Illich beschreibt, wie wir uns in ewigem Fortschrittsglauben den Werkzeugen technologischer Innovation unterwerfen. Wie adaptierst du diese These?
Bei Illich geht es nicht nur um technologische, sondern auch um gesellschaftliche Werkzeuge wie das Gesundheits- oder das Bildungssystem. Dass neue Werkzeuge alleine eine Verbesserung darstellen, ist falsch. Illich schreibt etwa, dass nur die Technologie gute Technologie ist, die ein Subjekt autarker macht und ihm die Möglichkeit gibt, persönliche Energie unter persönliche Kontrolle zu stellen. Die Utopie ist, dass Technologie soziale Gerechtigkeit und mehr Selbstkontrolle fördern kann. Im Überwachungskapitalismus wird uns allerdings beigebracht, dass die Basis technologischen Fortschritts Ausbeutung ist. Dabei muss das gar nicht so sein, das ist nur, was uns die fünf Menschen weismachen wollen, denen das Internet gehört.
Und jetzt mal weg von der theoretischen Betrachtung auf die ganz persönliche Ebene: Was sind so deine Gefühle hinsichtlich Technologie?
Ich gehöre ja zu der Generation der Digital Natives, die sich nur gerade so daran erinnern können, dass das Internet mal nicht existiert hat. Gleichzeitig hat physische Realität in meiner Jugend noch eine wichtige Rolle gespielt. Diejenigen, die sich für iPhones interessiert haben, fand ich ziemlich blöd. Ich hatte mein erstes Smartphone erst mit 18 oder 19 Jahren, da war ich also schon erwachsen. Rückblickend haben mir Technik und digitale Plattformen viel ermöglicht. Ich wäre in meiner Karriere nicht so weit, wenn nicht über Instagram immer wieder Kuratoren auf mich aufmerksam geworden wären. Und ich habe übers Internet richtig viele geile Menschen kennengelernt. Gleichzeitig ist da dieses gewisse Misstrauen demgegenüber, was meine Freundin, die Performance-Künstlerin Fette Sans kürzlich „the necklace of tabs around your neck“ genannt hat, die 10.000 Tabs, die immer irgendwo offen sind und die einem metaphorisch gesprochen die Luft abschnüren können.
Es wird immer wieder gern betont, dass man Kunst im Digitalen eben nicht wirklich erfahren kann. Ich halte dann gern dagegen und sage: Vielleicht nicht alle Kunst, aber doch die Künstler*innen und darüber kann dann eine Auseinandersetzung mit ihren Arbeiten beginnen. Mir geht es da nämlich wie dir, auch ich habe online schon viele super Menschen kennengelernt. Wieso wird das nicht positiver bewertet?
Ganz ehrlich, viele Leute heulen auch gerade rum, Museen würden nur noch als Selfie-Hintergrund funktionieren und Institutionen würden versuchen, mehr instagramable Art zu zeigen. Wäre natürlich schade, wenn das ausnahmslos zuträfe. Aber diese Entwicklung hat auch dafür gesorgt, dass ganz andere Gruppen von Leuten ins Museum gehen als noch vor zehn Jahren. Diejenigen, die da jetzt laut aufschreien, haben halt über Generationen auf ihrem Bildungskapital gesessen und keinen Bock, ihre Ressourcen mit anderen zu teilen.
Ich finde, du gehörst zu den Künstler*innen, die sehr gut über ihr Werk sprechen können. Muss man das heute können? Ist es vielleicht ein bisschen outdated, drei Kleckse zu machen und dann zu erwarten, dass da große Rezeption ohne eigenes Zutun geschieht?
Generell kannst du als Teil einer Zivilgesellschaft natürlich in deiner Höhle chillen, aber du bringst immer Mehrwert, wenn du deine Gedanken mit anderen Personen teilst. Jedes Privileg verpflichtet meiner Meinung nach auch dazu, der Gesellschaft einen Dienst zu erbringen. Außerdem kann diese Art der Vermittlungsarbeit Kunst ein bisschen aus ihrem Elfenbeinturm holen. Dafür ist es auch wichtig, eine Sprache zu finden, die eine Idee oder eine Person hinter einer Arbeit greifbar macht.
Es gibt eine ganz tolle Mini-Lecture von dir, „Big Glitch Energy“. Da bezeichnest du Freude als politisch subversiv. Ich dachte, das könntest du zum Abschied nochmal erklären. Meine Vermutung ist nämlich, dass uns das mit einem positiven Ausblick aus diesem Gespräch entlässt.
Gemeinsames Genießen ist eine Möglichkeit, Solidarität zu finden. Freude kann vor allem für Körper, die historisch als überflüssig abgetan wurden, politischen Widerstand bedeuten. Das ist in unserer hyperkapitalisierten Gesellschaft insofern interessant, als Freude eins der wenigen Dinge darstellt, die nur schwer in Kapital umzutragen sind. In einem patriarchalen System werden Affekt und Emotion schließlich immer geringwertiger als Rationalität eingestuft. Freude ist aber auch einfach ein Mechanismus, um uns alle mal ein bisschen weich zu machen, unser femme zu zelebrieren, uns mal lieb zu haben und in die Arme zu nehmen. Gibt nämlich ganz schön viel Scheiße, um die wir uns kümmern können, und es ist viel einfacher, wenn wir dabei ein bisschen Spaß haben.
WANN: “Anna Ehrenstein: Tools for Conviviality – C/O Berlin Talent Award 2020” läuft bis zum 2. September.
WO: C/O Berlin, Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin.
Die T-Shirts, über die wir im Interview sprechen, gibt es im Shop von C/O Berlin – vor Ort wie online.
Ihr seid interessiert an Annas Kollaborateur*innen und ihren Projekten? Dann klickt euch durch und unterstützt: das Handtaschen-Label Lyds (auch präsent auf Facebook), das Headwrap-Unternehmen Les Moussors de Awa (die Gründerin findet ihr auf Instagram), die Agentur Rainbow-Communication von Saliou Hobbes Ba (er ist ebenfalls auf Instagram unterwegs), das Modekollektiv Donkafele (auch auf Instagram) sowie das Yoga-Business von Nyamwathi Gichau (die ihr – klar – auch auf Instagram findet).
Und wenn ihr immer noch nicht genug habt, dann findet ihr bei uns gleich noch ein Interview mit Anna Ehrenstein aus dem vergagenen Jahr.