Wie wollen wir leben?
Gegenwartskunst im Lenbachhaus

25. Januar 2021 • Text von

Die Ausstellung „Die Sonne um Mitternacht schauen“ stellt gesellschaftspolitische Fragen über Gleichberechtigung, Identität und Diskriminierung. Die Kuratorin Eva Huttenlauch erklärt, wie sich das Lenbachhaus politisch positioniert, wie sich Darstellungsrealitäten geändert haben, und nimmt uns mit auf eine Interpretationsreise durch Katharina Sieverdings Selbstportraits.

Katharina Sieverding, Kontinentalkern X / Die Sonne um Mitternacht schauen, 1988 Lenbachhaus
Katharina Sieverding, Kontinentalkern X / Die Sonne um Mitternacht schauen, 1988, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München © VG Bild-Kunst, Bonn 2020, Foto: Lenbachhaus.

In der aktuellen Sammlungspräsentation „Die Sonne um Mitternacht schauen“ zeigt die Städtische Galerie im Lenbachhaus Werke, die sich überwiegend über den Körper in der Kunst gesellschaftspolitischen Fragen der Gleichberechtigung, Rollenzuschreibung, Normierung oder Diskriminierung nähern. Das Lenbachhaus hat sehr früh begonnen, weibliche Positionen auszustellen und Werke von Künstlerinnen anzukaufen, die nun von 1958 bis in die Gegenwart präsentiert sind. Dabei schlägt die Ausstellung einen weiten Bogen über den feministischen Kunst-Diskurs der 1970er-Jahre mit Werken von VALIE EXPORT, Friederike Pezold oder Rosemarie Trockel, über die AIDS-Krise und heutige Gender-Debatten zu Fragen der Identitätsbildung und Migration. Als junge Position zum Thema Humanität und Sexualität lässt sich eine fünfteilige Videoinstallation der indischen Künstlerin Tejal Shah entdecken. Die Kuratorin Eva Huttenlauch erklärt, wie sich das Lenbachhaus programmatisch politisch positioniert, wie sich Darstellungsrealitäten geändert haben, und nimmt uns mit auf eine Interpretationsreise durch Katharina Sieverdings Selbstportraits.

Fotografie von Barbara Klemm zeigt Postarbeiterinnen in den 1970er-Jahren
Barbara Klemm, Postarbeiterinnen, Frankfurt a.M., 1969, Silbergelatine, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Sammlung KiCo, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020.

gallerytalk.net: Warum habt ihr die Entscheidung getroffen, aktuell mit der Ausstellung Werke zu zeigen, die den Körper ins Zentrum stellen und über ihn Themen wie soziale Herkunft, Identität, Rollenbilder, Gleichberechtigung oder Machtstrukturen in den Blick nehmen? 
Eva Huttenlauch: Es ist uns wichtig, dass wir uns nicht nur mit reinen Formfragen beschäftigen, sondern dass wir politisch sind, uns politisch positionieren und Kunstwerke zeigen, die politische Fragen aufwerfen. Mit „politisch“ meine ich alles was den Menschen angeht, seien es gesellschaftliche Fragen, Geschlechterfragen oder Identitätsfragen. Wir versuchen in der Ausstellung Themen zu verhandeln, die in den täglichen Debatten vorkommen. Hier gibt es beispielsweise die Gender-Frage, die sich aktuell besonders über die gendergerechte Sprache oder gleiche Bezahlung für Männer und Frauen stellt. Daran hängen viele weitere Themen wie Gleichberechtigung, Identität, Rollenzuschreibungen, Normierungen oder Diskriminierung und damit verbunden sind auch Körperfragen. 

Sind deshalb hauptsächlich Künstlerinnen in der Ausstellung vertreten?
Kunst von Frauen bringt es oft mit sich, dass die Künstlerinnen anhand ihres eigenen Körpers diese Fragen behandeln und über ihn die eigenen Grenzen und die eigenen Ängste darstellen. In gewisser Weise sind viele Werke Selbstportraits, die sich aber nicht wie das heroische männliche Künstlergenie zeigen, sondern im Gegenteil die Verletzlichkeit des Körpers. Es gibt aber auch noch andere Aspekte, die mitschwingen, wie Herkunft, Migration, Integration, gesellschaftliche Identität wie bei Candice Breitz’ Videoinstallation „Alien (Ten Songs from Beyond)“ (2002). Wir machen einen weiten Bogen über aktuell diskutierte politische und sozial relevante Themen auf. 

Videoinstallation von Candice Breitz im Lenbachhaus München
Candice Breitz, Alien (Ten Songs from Beyond), 2002, 10-Kanal-Videoinstallation, Detail, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, © Candice Breitz.

Der Ausstellungstitel „Die Sonne um Mitternacht schauen“ ist einem Werkzyklus von Katharina Sieverding entliehen. Die großformatigen Fotografien bestehen aus mehreren Selbstportraits, die ihr Gesicht mehr oder weniger von Goldstaub bedeckt zeigen oder verdecken. Um was ging es ihr mit dieser Form der Selbstinszenierung? 
Um an die angesprochenen Selbstportraits anzuschließen, Katharina Sieverding arbeitet in vielen ihrer Werke mit ihrem eigenen Gesicht. In der mittelalterlichen Ikonenmalerei wird Gold verwendet, um Licht darzustellen und damit das Göttliche. Wenn man durch die Kunstgeschichte streift, zeigen sich Künstler*innen oft gerade als diese göttliche Figur, die die Realität durch eine geistige Dimension auf eine andere Ebene hebt. Wenn Sieverding ihr eigenes Gesicht mit Gold überzieht, sprich mit Licht, spielt diese Symbolik eine wichtige Rolle. Die orange-rötliche Farbigkeit entsteht durch die Überblendung mit Bildern einer Sonneneruption, was wiederum den Bezug zum Licht aufgreift.

Hatte sie dafür vielleicht ein Vorbild?
Man könnte auch erwähnen, dass Sieverding Meisterschülerin von Joseph Beuys war. Für seine Aktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ (1965) bedeckte er sein Gesicht mit Honig und Blattgold. Auch bei ihm spielte das Gold als Topos für das Selbstverständnis als Künstler hinein. Man kann Sieverdings Selbstinszenierung aber auch als Maske verstehen und damit als Frage nach Identität. Sie ist eine Frau, die sich früh im männlich dominierten Terrain der Kunst und des Marktes durchgesetzt und behauptet hat, und als eine der ersten überhaupt mit Großformatfotografie gearbeitet hat. 

Mehlspeisenmadonna Malerei von Maria Lassnig als Selbstportrait mit Kuchen
Maria Lassnig, Mehlspeisenmadonna, 2001/02, Öl auf Leinwand, 150 cm x 200 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, © Maria Lassnig Stiftung.

Das Lenbachhaus besitzt die größte Sammlung von Werken von Maria Lassnig außerhalb Österreichs. Sie verbindet in ihrer Malerei emanzipatorische Aspekte mit intensiver Farbigkeit und Humor. Was genau bedeutet ihre eigene Bezeichnung der „Körperbewusstseinsmalerei“? 
Wir haben jüngst ein abstraktes Bild von Lassnig aus den späten 1950er Jahren für die Sammlung geschenkt bekommen, mit dem sie im Grunde Merkmale des amerikanischen Abstrakten Expressionismus vorwegnahm, und das eine künstlerische Phase von ihr zeigt, die man kaum kennt. Es nimmt bereits ihre spätere Farbpalette und in der Gestik körperliche Schwingungen auf, die für ihre Körperbewusstseinsmalerei prägend waren. Ursprünglich entwickelte sie in New York die „Body Awareness Paintings“, worin sie nicht das malt, was sie sieht, sondern was sie spürt oder empfindet. Es gibt viele Fotos von ihr, die sie auf der Leinwand liegend mit geschlossenen Augen beim Malen zeigen. Sie hat ihre altersbedingt physischen, aber auch psychischen Schmerzen auf die Leinwand gebracht. Es ging ihr nicht um die exakte Anatomie oder Wahrheit, sondern um das subjektive Empfinden.

Werk von Monica Bonvicini, Hurricanes and Other Catastrophes zeigt von Hurricane Katrina zerstörtes Haus in New Orleans
Monica Bonvicini, Hurricanes and Other Catastrophes (#27), 2008, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Walter Storms-Stiftung © VG Bild-Kunst, Bonn 2020.

Dass der Mensch und sein körperliches Empfinden heute auch von Machtstrukturen geprägt sind, die über die ihn umgebende Architektur und Urbanität auf ihn einwirken, zeigen die Werke von Monica Bonvicini. Welche Haltung steht dahinter?
Bei ihren Werken geht es etwas weg von reinen Körperfragen, hin zu größeren gesellschaftlichen Fragen: Wie wollen wir leben? Inwiefern sind von politischen Entscheidungsträgern entworfene urbane Strukturen für den Menschen gut oder schädlich? Bonvicini fuhr nach New Orleans und schaute sich die von Hurricane Katrina zerstörte Stadt an. In einem Zyklus von Arbeiten auf Papier mit dem Titel „Hurricanes and Other Catastrophes“ (2008) zeigt sie, wie der Mensch in seiner ganzen Existenz vom Verantwortungsbewusstsein bzw. dessen Fehlen einer Regierung abhängig ist. Ihre Kritik wird deutlich, indem sie zeigt, was es heißt in der Hand von Obrigkeiten zu sein, deren Korruption oder Wohlwollen das eigene Leben ausgeliefert ist. Das Werk „Blind Protection“ (2009) von Bonvicini ist aber auch als klassische Institutionskritik zu verstehen und zeigt Machtstrukturen auf, die auch Ausstellungsräumen eingeschrieben sind. 

Zeigt ihr noch mehr Werke, die sich dieser Thematik widmen?
Tejal Shah ist in diesem Kontext auch eine interessante, junge Position. In ihrer Videoinstallation „Between the Waves“ (2012) stellt sie Verbindungen zu architektonischen und ökologischen Fragen her und verbindet diese mit ihrem Körper. Sie thematisiert darin öffentlich als indische Künstlerin ihre eigene Homosexualität, was eine sehr mutige Geste im Kontext ihrer eigenen gesellschaftlichen Realität ist, und versucht eine neue, utopische Kosmologie aus dem eigenen Selbstverständnis im Einklang mit der Natur und der Stadt herzustellen.

Video von der indischen Künstlerin Tejal Shah
Tejal Shah, Between the Waves, 2012 (Videostill), Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Schenkung Barbara Gross anlässlich der Verleihung des Kunstpreises der Landeshauptstadt München, Foto: Lenbachhaus, Simone Gänsheimer, © Tejal Shah.

Die Fotografien von Barbara Klemm und Helga Paris tragen neben jenen von VALIE EXPORT und Barbara Hammann einen eher dokumentarischen Charakter, aber auch in ihnen schwingt eine gewisse Gesellschaftskritik mit.  Könntest Du das näher beschreiben? 
Die Werke von Barbara Klemm und Helga Paris sind einander gegenüber gehängt und zeigen Ost- und Westdeutschland in den 1970er- und 1980er-Jahren. Der Ausgangspunkt für diese Hängung war eine Serie von Helga Paris, die deutsche Näherinnen nach dem Krieg in ihrer Fabrik in der textilverarbeitenden Industrie zeigt und sich damit auf das Thema Arbeit konzentriert. Daneben hängen die Fotografien von Klemm, die ebenso das Arbeitsleben in verschiedenen sozialen Schichten und im Laufe der Zeit zeigen. Klemms anderes Thema ist der Mensch, die Familie, das Leben auf der Straße. Wir haben dieses wunderbare Bild mit drei Männern, die Kinderwagen schieben und man erkennt, dass Emanzipation in den 1970er-Jahren durchaus auch schon ein Thema war. In den Fotografien beider Künstlerinnen geht es um gesamtgesellschaftliche Identitätsfragen, wie sich nach dem Krieg, der totalen Zerstörung und Demoralisierung ein neues Selbstverständnis einer ganzen Gesellschaft entwickeln kann. 

Fotografie von Barbara Klemm mit drei Männern mit Kinderwagen aus den 1970er Jahren
Barbara Klemm, Frankfurt a. M., 1979, Silbergelatine, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Sammlung KiCo, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020.

Die Ausstellung präsentiert Werke, die von 1958 bis heute entstanden sind. Welche Entwicklungen lassen sich daran ablesen? 
Tejal Shah, Eva Kot’átková und Flaka Haliti sind die jüngsten Positionen in der Ausstellung und jede für sich eröffnet völlig andere Themenkreise, die auch den eigenen Biographien der Künstlerinnen geschuldet sind. Unter dem Gesichtspunkt des Körpers ist Tejal Shah hervorzuheben. Kot’átková dagegen stellt sich die Frage, inwiefern man von Kindheit an durch Normen und Werte, die einem von einem staatlichen System aufgezwungen werden, geprägt wird. Sie ist in der ehemaligen Tschechoslowakei in einem kommunistischen System aufgewachsen und fragt wie Eltern, Schule, Religion und Staat auf einen einwirken und ob man sich davon jemals wieder befreien kann. Haliti stellt ähnliche Fragen in Bezug zu Identität und Migration. Wie frei bin ich eigentlich als Mensch, je nachdem, wo ich geboren bin und welchen Pass ich besitze? Wie ist das eigene Selbstverständnis vor dem Hintergrund der Herkunft?

Installation mit Textil-Pistolen von Michaela Melian im Lenbachhaus
Michaela Melián, Mossberg Model Bullpup, 1992, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Schenkung der Künstlerin, Foto: Lenbachhaus, Simone Gänsheimer © VG Bild-Kunst, Bonn 2020.

Welche Themen in Hinblick auf den Körper in der Kunst haben sich verändert und wo stehen wir gerade? 
Es ist heute für männliche Künstler sicher nicht mehr so einfach den weiblichen Körper unkritisch zu „objektisieren“, wie es in den vergangenen Jahrhunderten der Kunstgeschichte der Fall war. Bei Künstlerinnen kommt es mir so vor, als seien in den 1960er-Jahren viele kaum über den eigenen Körper hinausgekommen in dem Sinne, dass sie sich hieran erstmal abarbeiten mussten, um eine Position zu beziehen – der Körper als Politikum. Für Künstlerinnen ist ihr eigener Körper als Thema heute zwar immer noch präsent, aber natürlich und zum Glück geht es längst auch um andere Themen, wie es anhand unserer Ausstellung deutlich werden soll.

WANN: Die Ausstellung ist noch bis zum 1. August 2021 zu sehen.
WO: Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Luisenstraße 33, 80333 München.

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