Was das Orakel sagt 36. Ljubljana Biennale of Graphic Arts
16. Juni 2025 • Text von Anna Meinecke
Zwischen Menschen und höhere Macht tritt das Orakel. Mit dem Titel schmückt sich die 36. Ljubljana Biennale of Graphic Arts. Besucher:innen können aus diversen potenziellen Offenbarungstöpfen schöpfen. Wir werfen Schlaglichter auf einige künstlerische Highlights.

An 217 Zentimeter Faden baumelt Žogica Marogica, der vielleicht berühmteste Marionettenball der Welt. Die gelb-rot gemusterte Kugel mit blauen Kulleraugen und schlaksigen Gliedmaßen hatte ihren großen Auftritt 1951 im Puppentheater der Hauptstadt Ljubljana. Gebannt verfolgten kleine wie große Zuschauer:innen, wie Žogica Marogica einem alten Ehepaar zuflog, von einem Drachen entführt und schließlich gerettet wurde.
In Slowenien kenne das Stück fast jede:r, sagt Chus Martínez, Kuratorin der diesjährigen Ljubljana Biennale of Graphic Arts. Sie selbst sei im Archiv der Stadt darauf gestoßen. Nun trägt sie die Geschichte des tschechischen Autors Jan Malík aus dem Jahr 1936 weiter an ein internationales Kunstpublikum, das dem Marionettenball, gestaltet von Ajša Pengov, auch außerhalb Sloweniens zu bescheidener Bekanntheit verhelfen könnte.
Professionelles Puppentheater hat in Slowenien Tradition, besonders als staatlich geförderte Kunstform in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist ein schön gewählter inhaltlicher Anker für eine Institution, die ebenfalls auf eine reichhaltige Geschichte zurückblicken kann: Die Ljubljana Biennale of Graphic Arts findet 2025 bereits zum 36. Mal statt.

Wenngleich die Biennale ihre Historie weiterhin im Namen trägt: Mit der Jahrtausendwende hat sich der Fokus von Holzschnitten, Drucken und dergleichen wegbewegt. Sie ist internationaler geworden. Unter dem Titel „The Oracle: On Fantasy and Freedom“ tritt Kuratorin Martínez an, Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens in der Welt auszuloten.
Im ersten Stock des Museums MGLC im Schloss Tivoli verwickeln gräuliche Bettlaken-Geister Besuchende der Biennale in ihren konfusen Konflikt. Auf vier hochformatigen Screens in je einem der historischen Räume inszeniert Gabriel Abrantes existenziellen Schmerz, Streit, Trauer. Seine Installation „Bardo Loops“ säht große Gefühle und stiftet maximale Verwirrung.
Eine Meinungsverschiedenheit über DNA-Analyse eskaliert im Faschismusvorwurf. Vor lodernden Flammen traktiert ein Geist den anderen verzweifelt mit einem Stock, als könne das dem Wunsch nach einem gemeinsamen Kind Nachdruck verleihen. Auf einer Wohnzimmercouch, der das Wasser bereits bis zur Sitzfläche steht, fällt der Satz: „Ich glaube, ich liebe dich nicht mehr.“ Eine Erkenntnis, infolge derer sich die Geister in 69er-Stellung unter das Laken des jeweils anderen begeben. Am Klavier singt ein Geist von Einsamkeit und Untergang.
In nur wenige Minuten langen Loops können die Geister ihren Krisen nicht entkommen. Ihr Leiden beginnt immer wieder von vorn. Auf der Suche nach dem Narrativ verfestigt sich bei der Betrachtung vor allem eine Gefühlsmischung von Erschütterung und Dringlichkeit. Verwunderlich ist, wie viel Emotion die leeren Augen- und Mundhöhlen zweier animierter Textilgesichter transportieren. Womöglich ist es sogar die reduzierte Mimikpalette, die es Zuschauenden erlaubt, eigene emotionalen Grenzgänge auf die animierten Geister zu projizieren.
Abrantes‘ Charaktere sind als nicht-menschliche Stellvertreter privaten Tragödien und gesellschaftlichen Herausforderungen ausgesetzt. Sie haben Kinder verloren, ihre Liebe wurde nicht erwidert, ihr Leid blieb ungesehen oder jedenfalls unverstanden – all das, während Naturgewalten ihren Lebensraum verwüsteten. Der singende Geist fragt: „Wie haben wir es geschafft, alles zu zerstören?“ Sein Publikum darf sich angesprochen fühlen. Können wir da noch was tun oder ist es schon zu spät?
Während Abrantes‘ Geister als Projektionsflächen so etwas wie eine universelle Erzählung vom Existieren in der Welt heraufbeschwören, erfüllt die Stellvertreterfigur der Filmemacher Yarema Malashchuk und Roman Khimei eine konkrete Funktion, die die Handlung ihrer Videoarbeit „Open World“ vorantreibt. Ein Teenager namens Yaroslav steuert darin einen Roboterhund durch seine Heimatstadt Saporischschja, aus der er infolge des russischen Angriffskriegs geflohen ist.

Die Zwei-Kanal-Installation ist im Museum für Moderne Kunst MG+ installiert. Sie mimt ein typisches „Let’s Play“-Set-up, allerdings stark vergrößert. Fast über die gesamte Breite des Ausstellungsraums reicht die Leinwand für die Gameplay-Ansicht, die üblicherweise screenfüllend wäre. Vor deren untere Ecke geschoben erscheint auf einer kleineren Leinwand das Facecam-Fenster.
Yaroslav lenkt den Roboter aus dem polnischen Exil. Vor einem Spiegel in seiner alten Schule macht er Halt, betrachtet sich in seinem temporären Körper, testet dessen Bewegungsfunktionen. Er sucht seine Lehrerin, ein Foto seiner Klasse, verrenkt das Roboter-Ich, landet auf dem Roboter-Rücken. Es ist eine Rückkehr mit Limitierungen. Sein alter Hundefreund Buffy erkennt ihn nicht, er verheddert sich in hohem Gras.
Nach Einbruch der Dunkelheit besucht Yaroslav aka Robo-Hund aka Yarik schließlich seine Mutter, die die entscheidende Frage stellt: „Vermisst du dein Zuhause?“ Yarik scherzt, weicht aus, steht auf, weil es an der Wohnungstür klingelt. In dem Moment steht in seiner Heimat, wo das Leben auch ohne ihn weitergegangen ist, alles still. Mutter und Sohn bewegen sich auf unterschiedlichen Zeitstrahlen, in unterschiedlichen Sphären. Sie sind für immer verbunden, aber jetzt gerade trennt sie etwas, nicht nur räumlich. Der Robo-Hund schweigt, Yarik kann nichts sehen, die Kommunikation bricht ab.
Der Roboter fungiert in Malashchuks und Khimeis Erzählung als Vehikel, wieder in Verbindung zu treten, wo es ohne Hilfsmittel nicht möglich wäre – ein notwendiges Übel, dessen Einsatz die menschlichen Beteiligten in möglichst viel Humor betten, solange es keine bessere Alternative gibt. Im Kontrast dazu erscheint menschliche Abwesenheit bei Takeshi Yasura beinahe als Idealzustand.
Das sonnendurchflutete Zimmer zur Straße im ersten Stock der Stadtgalerie Ljubljana bespielt Yasura mit verschiedenen Objekten auf, über und um spiegelnden Bodenbelag herum. Glasfliesen bedecken fast die gesamte Fläche des Raums, in ihnen spiegelt sich die Fassade der gegenüberliegenden Gebäude. Nur den Verweilenden erschließt sich die feine Komposition, die Yasura entworfen hat.
Eine Glühbirne flimmert über einem Häuflein japanischer Erde. In einem Lava-Stein vom Berg Fuji rotiert eine Vogelfeder aus Slowenien, angetrieben von winzigen Solarpaneelen. Draußen vor der Fensterfront weht eine fast transparente Fahne. Entlang dünner Fäden seilen sich winzige Wassertropfen ab. Ihren Takt geben Vogelgesänge vor, die Yasura in Ljubljana aufgenommen hat.

Keine Bewegung ohne Wind, keine Energie ohne Licht. Auch den technischen Teil seiner Konstruktion unterwirft Yasura schlussendlich wieder dem Rhythmus der Natur. Und doch reicht er mit seiner Installation „distilled #additives“ den Menschen einladend die Hand. So mündet ein tropfender Faden etwa in der Abformung einer geöffneten Handfläche. Sie fängt das Wasser auf, gibt es weiter. Fügt sich ein in einen harmonischen Kreislauf, der keine Hierarchien zwischen Menschen, anderen Lebewesen, natürlichen Objekten und, ja, auch menschengemachten Dingen kennt.
Yasura orchestriert einen Moment der Erleichterung inmitten einer zwar überschaubaren, doch ästhetisch wie inhaltlich wuseligen Biennale, deren Zusammensetzung zwar nicht immer aus einem Guss scheint, dafür mit ihrer Vielseitigkeit Anknüpfungspunkte für ganz unterschiedliche Geschmäcker bietet. Auch eine herrlich cleane Präsentation zweier Joan-Jonas-Arbeiten, eine einladende Außenskulptur von Kathrin Siegrist sowie Noor Abeds subtile Dokumentation choreografierter Performances inspiriert von palästinensischen Tänzen, für die die Künstlerin mit dem Preis der Biennale ausgezeichnet wurde, dürften Besucher:innen in Erinnerung bleiben.

An den vier Hauptstandorten, dem Schloss Grad Tivoli, dem sogenannten Schweizer Haus Švicarija, dem MG+ sowie der Stadtgalerie, begrüßen das Biennale-Publikum jeweils ein skulpturales Ensemble des slowenischen Puppenspielers, Regisseurs, Bühnenbildners und Illustrators Silvan Omerzu sowie ein Gedicht der slowenischen Schriftstellerin Svetlana Makarovič. Sie markieren Schwellen eines Neuanfangs, kreieren einen vertrauten und sicheren Rahmen für ein wiederholtes Einlassen auf mannigfaltige Orakelsprüche, die als Offenbarung fruchten könnten.
Inspiriert von Žogica Marogica, dem Wesen, dem seine Schöpferin Pengov mit maximaler Distanz zum Spielkreuz eine Idee von Autonomie einhauchte, forciert Kuratorin Martínez mit der 36. Ljubljana Biennale of Graphic Arts Erkenntnisse über Abhängigkeiten, Kontrolle und Synergien nicht nur zwischen menschlichen Akteur:innen sowie im besten Fall optimistische Visionen für die Zukunft.
WANN: Die 36. Ljubljana Biennale of Graphic Arts läuft bis zum 12. Oktober.
WO: An verschiedenen Orten in Ljubljana – MGLC (Grad Tivoli, Švicarija, Plečnik Auditorium), Museum für Moderne Kunst (MG+), Stadtgalerie Ljubljana, Jakopič-Promenade.
Vielen Dank an die Ljubljana Biennale of Graphic Arts für die Presse-Einladung und die Übernahme der Reisekosten.