Kunst als ewige Herausforderung
"TOTEM" von Wallace Chan in der Fondaco Marcello in Venedig

28. April 2022 • Text von

Das Who is Who der internationalen Kunstszene versammelt sich derzeit in Venedig. Im Rahmen der 59. Biennale haben abseits der Pavillons in der ersten Woche bereits zahlreiche Ausstellungen eröffnet, die das Kunstpublikum von überall anlocken. Wir haben den chinesischen Künstler Wallace Chan in seiner Ausstellung “TOTEM” in der Fondaco Marcello zu einem Interview getroffen, um über seine Herangehensweise an die Kunst, die Bedeutung von Materialität und den kolossalen Einsatz von Titan und Eisen in seinen neusten Arbeiten zu sprechen.

Der Künstler Wallace Chan neben einem seiner Kunstwerke in der Ausstellung TOTEM in Venedig
Wallace Chan TOTEM exhibition at Fondaco Marcello © Massimo Pistore.

gallerytalk.net: Wallace Chan, Sie haben das Material Titan in Ihren neuen Arbeiten in einer Größenordnung angewandt, wie kein anderer zeitgenössischer Künstler zuvor. Was sind die Herausforderungen und Voraussetzungen im Umgang mit einem solchen Material? Welchen Schwierigkeiten und Problemen mussten Sie sich während des Entstehungsprozesses stellen?
Wallace Chan: Es bereitet mir große Freude, mich in meiner Kunst immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen. Deshalb arbeite ich gerne mit ungewöhnlichen Materialien, die bei anderen Kunstschaffenden kaum Verwendung finden. Der Sinn meines Daseins liegt darin, die Herausforderungen, die ich an mich und meine Kunst stelle, zu überwinden. Das ist mein Antrieb. Der Umgang mit verschiedenen Materialien spielt für mich dabei eine zentrale Rolle. Der Schmelzpunkt von Titan liegt bei etwa 1720 Grad. Die erste Herausforderung in der Arbeit mit Titan ist demnach die Temperatur. Es ist außerdem nicht gerade mobil, selbst im geschmolzenen Zustand stellt der Transport von Titan eine Schwierigkeit dar. Die Titan-Gesichter, die in “TOTEM” zu sehen sind, waren in der Herstellung ebenfalls eine Herausforderung, sie mussten im Nachhinein durch Hämmern und Schnitzen aufwendig bearbeitet werden.

Objekte von Wallace Chan in der Ausstellung TOTEM in Venedig, unter anderem Köpfe sind zu sehen
Wallace Chan TOTEM exhibition at Fondaco Marcello © Massimo Pistore.

Sie kommen aus der Schmuckkreation und haben den Umgang mit feinen Materialien gelernt. Welche Fähigkeiten konnten Sie aus der Schmuckherstellung auf die Arbeit mit solch festen Materialien wie Titan und Eisen übertragen? Wo gibt es Überschneidungen und Ähnlichkeiten im Kunstschaffen?
1973, zu Beginn meiner Karriere, war ich zunächst als Edelsteinschleifer tätig und habe unzählige Buddha- und Götter-Figuren hergestellt. Solche Figuren waren immer auch mit Schmuck besetzt, den ich ebenfalls in Feinarbeit bearbeitet habe. In den frühen 2000ern habe ich angefangen, reine Schmuckstücke herzustellen. Die künstlerische Arbeit in der Schmuckkreation erfordert viele Fähigkeiten, die ich mir über die Jahre angeeignet habe: Licht, Physik, Farbtheorien, Gemmologie, Strukturen. Schmuckkünstler*innen arbeiten sehr präzise und brauchen eine ruhige Hand. Viele dieser Fähigkeiten aus der Schmuckwelt sind auch für die Herstellung von Skulpturen sehr hilfreich. Allem voran stehen immer die Gedanken. Sie sind der Schlüssel zum künstlerischen Ausdruck. Die Art und Weise, wie ich in “TOTEM” Materialien zusammensetze, lässt sich durchaus vergleichen mit der Zusammensetzung von Schmuckteilen. Wie sich die Strukturen zueinander verhalten, ist dabei für mich entscheidend.

Als “Totem” bezeichnet man spirituelle Wesen, spirituelle Begleiter. Warum wurde dieser Titel für die Ausstellung gewählt? Welche Bedeutung haben Totems für Sie und Ihre Kunst?
“Totem” steht für mich für den Versuch der Menschen, den Kontakt zu etwas Undefinierbaren, das sie nicht kennen, einer höheren Kraft, zu suchen. In unterschiedlichen Kulturen sehen wir unterschiedliche Totems. In China werden zum Beispiel Drachen und Phönixe häufig dargestellt. Tragen Menschen diese Totems nah bei sich, können sie ihrem Glauben nach auch näher an Gott sein. Sie sind ein Weg, sich an das Unbekannte zu wenden. Für mich persönlich ist ein Totem gleichermaßen ein Zeichen der Hoffnung. Ich glaube daran, dass sie uns Kraft geben können.

Zwei Objekte von Wallace Chan, die aus Titan und Eisen bestehen und zusammengesetzt sind
Wallace Chan TOTEM exhibition at Fondaco Marcello © Massimo Pistore.

Zum Thema Hoffnung: Welche Rolle spielt dabei die Pandemie der letzten zwei Jahre? Wie wurde Ihre Arbeit vielleicht durch sie beeinflusst?
Ich habe bestmöglich versucht, mich und meine Arbeit nicht zu sehr davon beeinflussen zu lassen. Ich bin dankbar dafür, dass ich trotz der Pandemie bereits im letzten Jahr eine Ausstellung in Venedig zeigen und jetzt wiederkommen konnte. Die Pandemie hat zwar einige Abläufe, wie die Ein- und Ausreise, enorm erschwert, aber insgesamt konnte ich meine künstlerische Arbeit überwiegend ohne Einschränkungen fortführen, was mir auch für die Zukunft viel Hoffnung gegeben hat. Dennoch sind sie die Unsicherheiten, die wir Menschen auf der ganzen Welt gespürt haben, auch an mir nicht spurlos vorbeigegangen.

Sie bezeichnen Materialien als “Vermittler von Emotionen”. Welche Emotionen assoziieren Sie mit Titan und Eisen, das Sie in den neuen Werken verwendet haben?
Die Ausstellung steht gewissermaßen für Ying und Yang. Eisen ist leidenschaftlicher und übermittelt einen warmen Farbton. Eisen rostet außerdem sehr schnell, weil es mit den Elementen in der Luft reagiert. Titan hingegen ist ruhig, kühl und weniger flexibel. Man sieht es nicht rosten, da es viel länger erhalten bleibt als Eisen. In meiner künstlerischen Arbeit setze ich gerne zwei Materialien zusammen, die in ihrer Bedeutung, ihrer Persönlichkeit, umgekehrt werden. In der Realität ist Eisen nicht stärker als Titan, wird in “TOTEM” dennoch sehr kraftvoll eingesetzt und dargestellt. Die Gesichter wären mit Eisen deutlich einfacher in der Herstellung gewesen. Doch auch hier habe ich mich bewusst für das schwierigere Material Titan entschieden, damit es den Anschein des beweglicheren und flexibleren Materials erweckt, seiner Natur etwas entgegengesetzt wird. Es wird eine Illusion erschaffen.

Installationsansicht von Objekten aus Titan und Eisen von Wallace Chan in Venedig
Wallace Chan TOTEM exhibition at Fondaco Marcello © Massimo Pistore.

Welche Bedeutung spielt die Zeit im Entstehungsprozess der Werke?
Zeitempfinden ist sehr subjektiv. Wenn ich mich im Schaffensprozess befinde, existiert Zeit nahezu nicht mehr. Es spielt keine Rolle, wie viel Zeit ich für die Arbeit beziehungsweise Bearbeitung von bestimmten Materialien benötige. Ich habe noch nie das Gefühl gehabt, ich würde Zeit verschwenden, wenn ich sie in meine Kunst stecke. Mein Ziel ist es, dass meine Werke die Zeit und mein eigenes Leben überdauern – sie sollen ewig halten. Deshalb habe ich mich für Titan entschieden, denn es kommt der Ewigkeit am nächsten.  

Eine allgemeine Frage zum Schluss: Was ist Ihrer Meinung nach die Rolle von Kunst in unserer heutigen Gesellschaft – abgesehen von ihrer Funktion als Hoffnungsträgerin?
Kunst erzählt immer die Geschichten der Zeit, in der sie entstanden ist. Kunst ist eine Art der Dokumentation, über Menschen und ihre Lebensbedingungen zu berichten, sie für die Nachwelt festzuhalten. Das macht die Kunst für uns Menschen so wichtig. Sie schafft es, unterschiedliche Zeiten zu verbinden. Kunst ermöglicht es nicht nur, unsere eigene Gegenwart zu erkunden, sondern auch vergangene Zeiten näher kennenzulernen. Heute haben wir es beispielweise in der Kunst mit VR, AR oder NFTs zu tun – auch solche technologischen Entwicklungen sind Ausdruck unserer Zeit, die es in der Kunst zu reflektieren und visualisieren gilt.

Vielen Dank für das Gespräch und die Presse-Einladung nach Venedig.

WANN: Die Ausstellung “TOTEM” ist bis zum 23. Oktober 2022 zu sehen.
WO:
Fondaco Marcello, 30124, Calle del Tragheto, 3415, 30123 Venedig.

Mehr Lesestoff rund um die Ausstellungen abseits der Biennale Länderpavillons findet ihr hier.

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