Die Kunst des Loslassens "Transcendence" von Wallace Chan in Venedig
2. Mai 2024 • Text von Carolin Kralapp
Im Rahmen der 60. Venedig Biennale werden neben den Länderpavillons zahlreiche weitere Ausstellungen in der ganzen Stadt gezeigt. Wir haben uns erneut mit dem chinesischen Künstler Wallace Chan in Venedig getroffen, um über seine neue Ausstellung “Transcendence” in der katholischen Kirche Santa Maria della Pietà zu sprechen. Es geht um vermeintliche Gegensätze, Religion, künstlerische Meditation und Spiritualität.
Gallerytalk.net: Vor zwei Jahren fand im Rahmen der Biennale in Venedig Ihre Ausstellung “TOTEM” in der Fondaco Marcello statt. In unserem damaligen Gespräch teilten Sie mit uns, dass Sie in der Kunst immer auf der Suche nach Herausforderungen sind. Nun, zwei Jahre später, haben Sie im Rahmen der 60. Biennale von Venedig Ihre neue Ausstellung “Transcendence” in der Santa Maria della Pietà eröffnet. Was waren die Herausforderungen bei der Vorbereitung der neuen Ausstellung und Ihrer neuen Werke?
Wallace Chan: Ich versuche immer wieder, Neues auszuprobieren und mich weiterzuentwickeln. In meiner Praxis beschäftige ich mich mit neuen Techniken und Materialien. “Transcendence” ist eine Fortsetzung meiner letzten beiden Ausstellungen hier in Venedig. Meine großformatigen Skulpturen befinden sich in einem völlig neuen Setting, einer Kirche, und ich erhoffe mir von der neuen Ausstellung, dass die Besucher*innen hier Spiritualität und Frieden finden.
GT: Welche Bedeutung hat insbesondere der Ort, die Santa Maria della Pietà, im Kontext der Ausstellung und in Bezug auf die Kunstwerke?
WC: Der Kurator der Ausstellung “Transcendence”, James Putnam, und ich haben uns bei den Vorbereitungen viele Orte und Räume angesehen. Als wir auf diesen Nebenraum von Santa Maria della Pietà stießen, wussten wir sofort: Hier muss die Ausstellung stattfinden. Es ist so ein bedeutungsvoller historischer Ort, ein Ort der Meditation und der Ruhe. Mit meinen Arbeiten hier im Raum trifft das Neue auf das Alte, die Vergangenheit auf die Gegenwart – es entsteht ein Kontrast, den ich unglaublich spannend finde. Die Grenzen von Raum und Zeit beginnen zu verschwimmen und ich möchte das Publikum einladen, auch diese Erfahrung zu machen. Ich verstehe die Ausstellung – die Arbeiten in diesem sakralen Raum – als Inspirationsquelle. Die katholische Religion bildet den Hintergrund für diesen Ort. Für mich persönlich und meine Arbeit ist vor allem der Buddhismus prägend, sodass ein vermeintlicher Kontrast entsteht, der mich und hoffentlich auch andere inspiriert.
Wir sind hier in San Marco, mitten in Venedig, in einer sehr belebten Gegend. Als ich diesen Ort hier zum ersten Mal gesehen und erlebt habe, hat sich sofort ein Gefühl von Ruhe und Entspannung eingestellt. Es ist leiser hier, alles wirkt entschleunigt und auch das Licht ist anders. Dieser besondere Ort bietet Raum für Erleuchtung. Innen und Außen stehen ebenfalls im Kontrast, beim Betreten der Kirchenschwelle stellt sich immer mehr Stille ein, dieses Gefühl ist religionsübergreifend. Es eröffnet die Möglichkeit, das Licht der Weisheit zu erfahren. Unabhängig von Nationalität und Religionszugehörigkeit können wir hier gemeinsam die Grenzen der Körperlichkeit überschreiten, meditieren und über das eigene Selbst nachdenken.
GT: Können Sie dieses Spannungsverhältnis zwischen den Religionen näher erläutern? Oder gibt es Ihrer Meinung nach gar keine Spannung?
WC: Für mich basieren alle Religionen auf dem gleichen Fundament – der Liebe. Früher, als ich noch klein war, bin ich selbst in eine Kirche gegangen und habe dort kostenlos Milch und Brot bekommen. Das hat mich damals zwar in eine Konfliktsituation mit meiner Großmutter gebracht, aber für mich gab es schon immer verschiedene Religionen und Glaubensrichtungen. Und es ist für mich selbstverständlich, diese zu respektieren.
GT: Kommen wir zu den Kunstwerken – im schmalen Kirchengang hängen hintereinander aufgereiht massive Skulpturen aus Titan, dem Material, für das Sie inzwischen ein Spezialist sind. Was zeichnet diese Arbeiten neben ihrer ungewöhnlichen Materialität aus?
WC: Die vier großen Skulpturen in der Ausstellung stehen symbolisch für die vier Jahreszeiten. Die erste Arbeit, die man beim Betreten der Ausstellung sieht, stellt den Winter dar. Auf den ersten Blick wirkt die Skulptur erschreckend und schockierend. Bei näherer Betrachtung offenbart sich jedoch die friedliche Seite des Objekts. Die Anordnung der Skulpturen hintereinander in dem engen Raum stellt in gewisser Weise den Weg zur ultimativen Ruhe und friedlichen Stille dar, die die Ausstellung vermitteln soll. Er führt vom kühlen Winter zur großen Tulpe am Ende des Ganges, die den Herbst symbolisiert. Auf einer Reise bin ich mit Tulpen in Berührung gekommen. Sie haben mich total fasziniert. Die Tulpe ist ein Symbol für den neuen Zyklus des Lebens. Der Weg zur inneren Ruhe ist immer mit Hindernissen und Schwierigkeiten verbunden. Dieser Weg wird hier auf kleinem Raum künstlerisch nachgezeichnet.
GT: Beim Betrachten der Skulpturen fallen sofort die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke und -formen auf.
WC: Die Gesichter sind sozusagen Stempel, sie drücken verschiedene Emotionen aus, die das Leben mit sich bringt. Sie symbolisieren das Loslassen. Um das Schöne wahrnehmen, genießen und schätzen zu können, müssen wir lernen, das Dunkle, alle Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden.
GT: Die Ausstellung vereint somit vermeintliche Gegensätze. Besonders auffällig ist das Zusammenspiel des sehr harten und kühlen Materials Titan mit der Leichtigkeit, die durch Hängung der schweren Skulpturen erzeugt wird, und der ruhigen Atmosphäre, die im Raum durch die beruhigende Hintergrundmusik entsteht. Ein letzter vermeintlicher Gegensatz erwartet das Publikum am Ende der Ausstellung – ein Altar der besonderen Art. Können Sie ihn für die Leser*innen beschreiben?
WC: Hinter der Tulpe stehen auf einem Altar ein Buddha und ein Jesus Christus. Ihre Körper sind jedoch vertauscht. Damit möchte ich unterstreichen, dass die Religionen zwar unterschiedlich sind, aber alle auf der Liebe basieren. Es geht nicht darum, einzelne Religionen hervorzuheben, sondern die Vielfalt zu würdigen. Ich habe mich immer in verschiedenen Religionen und Gebetsräumen aufgehalten. Freundlichkeit, gegenseitiger Respekt und Liebe sind für mich die Werte, die im Leben zählen, und das möchte ich auch in meiner Kunst zum Ausdruck bringen.
GT: Eine letzte Frage – Der Kurator James Putman vermittelt, dass die Selbstreflexion in “Transcendence” eine entscheidende Rolle spielt. Wie sehen Sie das persönlich? War der künstlerische Prozess und die Vorbereitung der Ausstellung auch für Sie eine Form der Selbstreflexion und was haben Sie dabei über sich selbst gelernt?
WC: Das künstlerische Schaffen ist für mich immer wieder eine gute Gelegenheit, alte Gewohnheiten abzulegen und loszulassen. Ich will die Vergangenheit loslassen. Nur so kann ich das erreichen, was ich mir vorgenommen habe. Die Konzentration auf das Schaffen ist das, was mich in einen Zustand der Transzendenz versetzt und meine Inspiration in Kunst umsetzt. Für mich ist alles eine Quelle der Inspiration. Selbst wenn ich zum Frühstück ein Ei esse, inspiriert mich das für meine Arbeit. Der Geschmack oder auch das Knacken der Eierschale regt meine Kreativität und mein Denken an. Wieder einmal habe ich gelernt, dass meine Kreativität, meine Fähigkeit, Kunst zu machen, mein Antrieb im Leben ist, das, was mich ausmacht. Je älter und erfahrener man wird, desto mehr muss man sich selbst in Frage stellen und sich davor hüten zu glauben, den einzig richtigen Weg gefunden zu haben und sich darauf auszuruhen. Ich möchte mich der ständigen Herausforderung stellen, mich und mein Handeln kritisch zu hinterfragen und dabei neue Wege zu finden. Würde ich in der Vergangenheit leben, würden sich für mich emotionale Türen nicht öffnen oder ich würde sie wahrscheinlich nie finden. Die Tür zur Kunst würde wahrscheinlich verschlossen bleiben. Und dieses Risiko möchte ich nicht eingehen.
WANN: Die Ausstellung “Transcendence” läuft bis zum 30. September 2024.
WO: Chiesa di Santa Maria della Pietà, Riva degli Schiavoni, 30122 Venedig, Italien.
Vielen Dank für das Gespräch und die Presse-Einladung nach Venedig.