Unsent Love Letters

27. Januar 2018 • Text von

Was wäre unser Leben nur ohne Kunst und Musik? Vermutlich würden wir ein sehr trauriges und leeres Dasein fristen – eine wahrlich grausame Dystopie! Sie bringen Farbe in den bisweilen grauen und eintönigen Alltag. Geben Anlass zum Träumen, regen zum Nachdenken an, spenden Trost und Geborgenheit. Umso erstaunlicher ist es, dass wir bisher selten in den Genuss gekommen sind beide gleichzeitig zu erleben.


Seitdem Cabaret Voltaire, der Wiege der Performancekunst, hat es viele spektakuläre Auftritte gegeben. Man denke an Joseph Beuys, Marina Abramovic, Chris Burden, Yoko Ono, Carolee Schneemann und viele mehr. Aber selten bedienten sich die Künstler beider Disziplinen. Während die Verbindung von Tanz und Musik naheliegend ist, wurden diese selten in Verbindung mit der Malerei praktiziert. Bei den legendären Kooperationen zwischen Pablo Picasso, Georges Braque und Erik Satie am Ballett Russe in Paris oder Oskar Schlemmers Triadic Ballett, welches er zusammen mit den Tänzern Albert Burger und Elsa Hötzel inszenierte, war die Arbeit der Künstler meist auf das Design der Kostüme oder die Gestaltung des Bühnenbilds beschränkt. Die japanische Nachkriegsgruppierung Jikken Kobo, welche sich aus Künstlern, Musikern und Choreographen zusammensetzte, war eine der wenigen Ausnahmen. Regelmäßig organisierten sie eine Triade aus Kunst, Musik und Tanz. Nichtsdestotrotz ist und bleibt dieses Phänomen wohl eher eine Seltenheit.

Doch der 17. Januar hielt eine rare Gelegenheit für mich bereit. An diesem Tag kamen die Komponistin und Pianistin Elena Kats-Chernin, die Balletttänzerin Natalia Maria Wojciechowska und der Künstler Jacques Gassmann in der Fasanenstraße 28 im Berliner Charlottenburg zusammen. Ihre Performance versprach eine Synthese dieser Disziplinen, die im Zusammenspiel das Gesamtkunstwerk ergeben. Den etwa 30 Besuchern bot das Atelier des Künstlers eine intime Atmosphäre. Überall standen oder saßen sie auf schwarzen Klappstühlen um das Klavier und die mit Papier abgeklebte Fläche herum, welche sich quer durch den Raum erstreckte. Ein Scheinwerfer tauchte die Szenerie in ein dramatisches Licht und steigerte die Erwartung ins Unermessliche.


Die Performance war eine Hommage an den Jahrhundertkomponisten Erik Satie. Inspiriert wurde das Konzept von seiner unerwiderten Liebe zu der Künstlerin Suzanne Valadon, der er bereits am Abend des Kennenlernens einen Heiratsantrag machte. Nur für kurze Zeit waren sie ein Paar, denn Saties Geisteszustand lag zwischen Genie und Wahnsinn. Diese Unberechenbarkeit wurde zusätzlich verstärkt, durch seinen regelmäßigen Alkoholmissbrauch. Er verfasste zahlreiche Liebesbriefe an seine Angebetete, die er aber nie versendete. Vermutlich ahnte er bereits, dass Valadon sie nicht lesen würde. Nicht allzu verwunderlich, denn aus Wut über die Zurückweisung hatte Satie sie bei einem Zusammentreffen aus dem Fenster geworfen. Ein Sturz, den sie nur knapp überlebte.


Die Geschichte von Satie und Valadon ist eine von Schöpfer und Muse. Natalia Maria Wojciechowska, ehemalige Solistin an der Nationaloper in Warschau, ist die zeigenössische Intepretation einer solchen und soll dem Künstler, in diesem Fall Jacques Gassmann, zu brillianten Einfällen verhelfen. Sie erscheint in einer roten, schulterfreien Robe und Spitzenschuhen. Mit Eimer und Schwamm gewappnet beginnt Gassmann den mit Papier ausgelegten Boden großzügig zu bemalen. Indem er die Farbe ihres Kleides aufgreift, scheint es, als wäre sie eins mit dem Kunstwerk. Langsam bewegt sich die Primaballerina im Takt der Musik, wobei sie Gassmann zunächst kaum Beachtung schenkt. Versunken in eigene Welten, lassen sie sich von Elena Kats-Chernin am Piano führen. Die australische Komponistin mit usbekischen Wurzeln, hat bereits Musikstücke in fast allen Genres geschrieben. Deep Sea Dreaming wurde 2000 bei der Eröffnungszeremonie der Olympiade in Sydney aufgeführt.


Doch bald nimmt die Musik mit einem tangoartigen Rhythmus, Geschwindigkeit auf. Kats-Chernin reagiert unmittelbar auf die Bewegungen von Maler und Muse, die nun zunehmend miteinander interagieren. Sie neckt ihn, rekelt sich auf ihn, zerreißt seine Briefe, hält ihn kühl auf Distanz, nur um ihn in nächster Sekunde zu verführen. Sie stiehlt ihm seine Utensilien um ihn selbst mit roter Farbe zu bemalen und ihn so zu einem Teil des Kunstwerkes zu machen. Er lässt sich dabei kaum aus der Ruhe bringen. Als die Primaballerina jedoch plötzlich verschwindet, beginnt er wie besessen an den Briefen zu arbeiten, die er mit seinen – für ihn typischen – schemenhaften Figuren Apart of me bemalt.


Die Musik wird dabei zunehmend eindringlicher. Wojciechowska trägt ein weißes Hemd, einen schwarzen Slip, enganliegendes Top und Boots. Eleganz und Unschuld wurden durch eine verruchte Coolness ersetzt. Ihre Bewegungen werden dabei offensiver, sie rollt sich lasziv über den Boden, setzt sich bei einer Zuschauerin auf den Schoß und drückt ihr einen der Briefe an die Brust. Dann stellt sich Wojciechowska vor eine senkrechte Leinwand und Gassmann malt ihre Umrisse in Aquarellfarben nach. Zum Grandfinal zeigt sich die Muse in einem hautfarbenen Body, der bereits mit blauen Sprenkeln bedeckt ist. Sie wirkt auf einmal klein und verletzlich, kaum wiederzuerkennnen ist die selbstbewusste Frau von zuvor. Vorsichtig taucht sie ihre Hände in Grün und malt zusammen mit ihrem Künstler auf der Leinwand. Die Musik wird leiser und sachte, bis sie schließlich verstummt. Die Zuschauer brechen in ein nicht enden wollenden Applaus aus.

WO: Atelier Jacques Gassmann, Fasenenstraße 28 (Hinterhof), 10719 Berlin.
WANN: Ab Februar wieder regelmäßig geöffnet, Vernissage im März.  

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