Überforderung im klinischen Raum Vienna Contemporary und Parallel Vienna
2. Oktober 2019 • Text von Leonie Huber
Zentrum und Peripherie, Mainstream und Subkultur, Contemporary und Parallel – in welcher Beziehung stehen die beiden Kunstmessen Wiens zueinander? Eine vergleichende Betrachtung nach einem ersten Besuch.
Wo bin ich? Die Irrungen und Wirrungen des eigenen Selbst außen vor lassend, bleiben Ort und Zeit als nützliche Parameter, um diese Frage zu beantworten. Vergangenes Wochenende wurden in Wien zwei Kunstmessen ausgerichtet, deren Titel eine Positionierung in Zeit und Raum beinhalten. Die Vienna Contemporary ist das Zentrum, die Parallel Vienna die Peripherie – so zumindest das allgemeine Narrativ. Bei genauerem Hinsehen verkompliziert sich diese Beziehung von außen und innen.
Begreift man „contemporary“ als künstlerische Epoche oder Gattung, ist der Titel „Vienna Contemporary“ nicht viel mehr als ein Produktname. Aber „contemporary“ kann sich auch als Attribut auf den Standort Wien beziehen, um diesen als einen zeitgenössischen charakterisieren. Oder sind wir tatsächlich alle Zeitgenossen und -genossinnen, die durch die weitläufigen Messehallen in St. Marx flanieren? Nur scheinbar verhält es sich bei der Parallel Vienna einfacher: Eine Parallelveranstaltung zum kommerziellen Flaggschiffs des Wiener Kunstherbsts. Mathematisch ist eine Parallele eine Gerade, die in immer gleichem Abstand und ins Unendliche ohne Berührungspunkte zu einer anderen Geraden verläuft. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist das Attribut „parallel“ im Gegensatz etwas, das ähnlich oder gleichartig gelagert ist – eine Relation zu seinem Bezugsgegenstand aufweist, eine Spiegelung, eine Entsprechung, eine Korrelation oder ein Äquivalent sucht.
Die Vienna Contemporary ist hell und luftig, weiträumig und gleichzeitig überschaubar, was den Besuch nicht nur angenehmer macht, sondern vor allem zu einem greifbaren Eindruck verdichtet. Die großen Wiener Galerien versammeln prominent platziert ihre Ausstellungshighlights des letzten Jahres. Gäste aus dem Ausland – insbesondere aus Osteuropa, was als Charakteristikum der Messe beworben wird, reihen sich entlang der Ränder der Ausstellungshalle auf. Die Prager Jiri Svestka Gallery zeigt neue Arbeiten von Katarína Poliačiková: Ein transparenter Paravent schützt drei sehr poetische Aufnahmen eines weiblichen Oberkörpers am Strand vor den Blicken der Vorbeihastenden. Auf den Fotografien legt sich der Schatten von Smartphone haltenden Händen verhüllend auf die Brüste der sich selbst Porträtierenden, ein zusätzlicher Schutz vor Entblößung. Insgesamt sind auf der Messe starke Fotografien zu sehen, außerdem wenig Skulptur und viel abstrakte Malerei. Einzelne Präsentationen durchbrechen diese Konformität: Überdimensionierte, verspielte Schwerter und zweischneidige Äxte von Matthieu Harberard bei Gianni Manhattan; oder Anna Meyers kleinformatige Glaspanele mit Zitaten aus der feministischer Kunstgeschichte und Theorie, die sich gespickt mit Aphorismen zeitgenössischer Feminismen in die Tiefe des Messestands der Galerie KROBATH erstrecken.
Marina Sulas einfache, wie präzise Installation für den Stand der Galerie Gabriele Senn in der ZONE1 hinterließ den stärksten Eindruck. Auf dem grau-blauen Teppichboden eines Wartezimmers stehen sich drei schmucklose Stühle und eine komfortable Couch inklusive Beistelltisch, Zeitungshalter und Magazine gegenüber. Die Fotografien an der Wand werden durch ihre atmosphärische Einbindung zum Dekor. Tatsächlich geben sie als vorausgegangene künstlerische Arbeiten das Thema vor: Drei Kuscheltiere sitzen aufgereiht am Ende einer Gymnastikmatte. Sie warten auf den Beginn der Behandlung oder auf die Patient*in, die sich zu ihnen gesellt. Aufgebahrt auf einem Servierwagen des Zimmerservices steht ein unberührter Frühstücksteller im morgendlichen Licht eines Hotelzimmers für dessen Bewohner*in bereit. Sula beschreibt in ihrem Begleittext das geteilte Gefühl von Verletzlichkeit, das Wartende miteinander verbindet. Von dieser gemeinsamen Erfahrung lösen sie sich in dem Moment, in dem der Grund ihrer gleichzeitigen Gegenwart verschwindet und das Warten ein Ende hat.
In der Lassallestraße 5, dem ehemaligen Gebäude der Bank Austria, wird kein Teppichboden ausgelegt, um eine atmosphärische Einheitlichkeit zu durchbrechen. Viele Künstler*innen haben im Gegenteil versucht die graumodernden Stoffelemente gewaltvoll herauszureißen. Bereits zum zweiten Mal findet die Parallel in einem leer stehenden Bürogebäude im zweiten Bezirk statt. Nicht nur der Titel, auch die Verknüpfung von Gallery Statements, Project Statements und Artist Statements suggeriert, dass die Parallel – einerseits durch kuratorische Schwerpunktsetzungen unabhängig von Marktvorlieben, andererseits durch das Bespielen von Anti-White-Cube’igen Räumen – Kritik an Repräsentations- und Wahrnehmungskonventionen übt. Auf drei Etagen, in hunderten von sehr kleinen, bis kleinen, bis überschaubaren Räumen, ist eine ausufernde Auswahl von künstlerischen Positionen aufgereiht. Die Uniformität und gnadenlose Luftlosigkeit der Räume macht die einzelnen Arbeiten zu einer homogenen Masse, die die Besucher*in zu ersticken droht. Einige Projekträume rebellieren mit einer punkigen Grobheit gegen die entfremdende Abgeschlossenheit der Räume, was zu den stärksten Momenten des Parcours gehört. Studentische Arbeiten fügen mühelos in die provisorische Ausstellungssituation ein. Während sich auf der Contemporary Skulptur und Installation vermissen ließ, gibt es hier beides im Überfluss. Die Materialität der Arbeiten ähnelt dabei immer wieder der sie umgebenden Architektur.
Das Konzept der Parallel Vienna ist es unterschiedliche Ausstellungs- und Repräsentationsformate zu vermischen und verschiedene Produktionsformen und Vermarktungsstrategien zusammenzuführen – Kunstmesse, Ausstellungsplattform und Künstler*innenstudio. All diese Überlagerungen und Verwirrungen von Kategorien werden durch die Zwischennutzung des Gebäudes um eine weitere Bezugsgröße verschoben. Dieses kritische Potential macht die Messe zu einem Ereignis für die Wiener Kunstszene und insbesondere für aufstrebende Künstler*innen der Stadt. Beim Durchstreifen der Flure verstärkt sich allerdings der Eindruck, dass die verschiedenen konzeptionellen Dimensionen und der daraus resultierenden Umfang der Parallel Vienna sich nachteilig auf die künstlerischen Arbeiten auswirkt. Hinter jeder Tür wartet eine weiteres Werk, eine weitere Künstler*in, eine weitere Galerist*in. Bei genauerem Hinsehen werden die einzelnen Positionen nicht weniger isoliert, vereinheitlichend oder austauschbar präsentiert als in den Messehallen der Vienna Contemporary. In der Mathematik berühren sich tatsächlich nur im zweidimensionalen Raum eine Parallele und eine Gerade nie, denn in der Realität treffen sich zwei Flugzeuge, die parallel zueinander fliegen, zwangsläufig am Nordpol – selbst wenn das eine im Zentrum, das andere in der Peripherie startet.
WANN & WO: Nächstes Jahr findet die Vienna Contemporary von 24.-27. September 2020 erneut in der Marx Halle Wien statt. Die Termine und Location für die Parallel Vienna werden auf deren Webseite bekannt gegeben.