Über gesellschaftliche Barrieren
"Aus der Krankheit eine Waffe machen" im Kunstraum Kreuzberg

24. Juli 2024 • Text von

Der Kunstraum Kreuzberg präsentiert mit “Aus der Krankheit eine Waffe machen” eine kraftvolle Gruppenschau, die die aktuellen Zustände in der Gesundheitspolitik künstlerisch hinterfragt. Sie bietet alternative Sichtweisen zu Ist-Zuständen an, während die beteiligten Künstler*innen die strukturelle Benachteiligung behinderter, chronisch kranker und neurodivergenter Menschen für die Öffentlichkeit sichtbar machen.

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Ausstellungsansicht “Aus der Krankheit eine Waffe machen”, Foto: Eric Tschernow.

Besucher*innen der Ausstellung “Aus der Krankheit eine Waffe machen” im Kunstraum Kreuzberg werden von den kämpferischen und großformatigen Bannern von The Chronic Iconic begrüßt – ein Projekt der Künstlerin Jessica Cummin. Ihr Werk “Not getting well soon” ist eine kraftvolle künstlerische Antwort auf den alltäglichen Ableismus, den sie erlebt. Der Begriff “Ableismus” bezeichnet die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, indem sie an bestimmten Fähigkeiten gemessen und auf ihre Beeinträchtigungen reduziert werden, während ihnen gleichzeitig der Zugang zum Beispiel zu medizinischer Versorgung strukturell erschwert wird. Cummin drückt in ihrer Arbeit das frustrierende Gefühl aus, ihre unsichtbare chronische Erkrankung ständig erklären zu müssen, und verpackt ihre politischen Botschaften in markante Frakturschrift.

Die Ausstellung umfasst 17 künstlerische Positionen, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher Lebensgeschichten und Krankheitsverläufe einen kritischen und künstlerischen Blick auf die Gesundheitspolitik in Deutschland werfen und alternative Zugänge zur aktuellen Situation aufzeigen. Der Kunstraum Kreuzberg im ehemaligen Diakonissen-Krankenhaus Bethanien fügt sich nahtlos in den inhaltlichen Gesamtkontext ein. Hier wurden in den 1970er Jahren gesundheitspolitische Kämpfe ausgetragen.

Das Krankenhaus wurde 1970 geschlossen und von der evangelischen Kirche für 10,5 Millionen Mark an das Land Berlin verkauft, was eine öffentliche Kontroverse um die Nutzung auslöste. Am 19. Dezember 1971 besetzten Jugendliche das leerstehende Schwesternwohnheim Martha-Maria-Haus ud benannten es in Georg-von-Rauch-Haus um. Eine Polizeirazzia am 19. April 1972 führte zu Schlagzeilen, die von der Rockband Ton Steine Scherben im Rauch-Haus-Song thematisiert wurden.

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Ausstellungsansicht “Aus der Krankheit eine Waffe machen”, Foto: Eric Tschernow.

Die Arbeit “Ein Sommer in Berlin” von Tomás Espinosa besteht aus überdimensionalen, pinkfarbenen Tabletten mit der Aufschrift “572 Tri”, die auf dem Boden aufgereiht und aufgetürmt sind. Der gesamte Ausstellungsbereich ist in ein rosa-violettes Licht getaucht. Die Abkürzung “Tri” auf den Keramikpillen steht für Triumeq, ein Medikament zur Senkung der HI-Viruslast bei HIV-positiven Menschen – ein Thema, das immer noch tabuisiert und stigmatisiert wird.

Espinosa erweitert den Kontext auf globaler Ebene: trotz der Tatsache, dass HIV mittlerweile gut behandelbar ist, bleibt dies vielen unbekannt. Zudem übernimmt die Krankenkasse Triumeq nicht überall auf der Welt, sodass nicht alle Betroffenen gleichberechtigten Zugang zur medizinischen Versorgung haben, was Espinosa scharf kritisiert. Das Werk besteht insgesamt aus 365 Tabletten, eine für jeden Tag des Jahres. In der Ausstellung sind 90 der knallpinken Pillen zu sehen, entsprechend der Anzahl der Ausstellungstage.

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Ausstellungsansicht “Aus der Krankheit eine Waffe machen”, Foto: Eric Tschernow.

Nachdem sie an den Tabletten vorbeigekommen sind, durchstreifen Besucher*innen die Textil-Installation “In Waves” von Sophie Utikal. Großformatige Stoffe, die in unterschiedlichen Höhen von der Decke hängen und mit groben Nadelstichen verbunden sind, schaffen eine sinnliche und ruhige Atmosphäre, in der Formen und Farben sanft ineinander übergehen. Utikal thematisiert in ihrer Arbeit auf abstrakte Art und Weise Verbundenheit, Nähe und offene Risse, wobei sie Verwundbarkeit und den eigenen Heilungsprozess sichtbar macht. Assoziative Fragen wie, wie oft eine Wunde wieder geflickt werden kann, werden in den Raum gestellt, bleiben jedoch unbeantwortet. Ausgehend von Sophie Utikals Installation gehen weitere kleine Räume ab, die zum Verweilen einladen.

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Ausstellungsansichten “Aus der Krankheit eine Waffe machen”, Foto: Eric Tschernow.

Magda Korsinsky erkundet in ihrer Arbeit “Aufbegehren”, bestehend aus Siebdrucken, Wandfarbe und Folienschrift, Themen wie Haltung, Kleidung und Intersektionalität. Die Ausstellung gewährt Einblick in den Werkzyklus “Aufbegehren”, für den Korsinsky verschiedene Interviewpartner*innen zu ihren Ansichten über Körper, Kleidung, Sexualität und Widerstand befragt hat. Eine Protagonistin teilt ihre Erfahrungen, die an der Wand des Ausstellungsraums nachzulesen sind. Sie beschreibt, wie sie mit zunehmendem Alter weniger Wert auf soziale Erwartungen legt, aber manchmal an ihr Teenager-Ich zurückdenkt, das sich so sehr für sich selbst geschämt hat. Diese berührenden Worte finden bei vielen Besucher*innen Resonanz und Mitgefühl.

In ihrer Mixed-Media-Installation “Weiche Knie” präsentiert Julia Lübbecke ein subjektives Archiv, das sich mit Formen des Für- und Umsorgens beschäftigt. Die Künstlerin untersucht medizinische Methoden, die noch von den Körperidealen des Nationalsozialismus geprägt sind. Dazu gehört beispielsweise die orthopädisch-pädagogische Technik der “Mahnbandage”, die bis heute zur Haltungskorrektur eingesetzt wird. In der Ausstellung beleuchtet Lübbecke den Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit, die rechtliche Situation von Schwangerschaftsabbrüchen (Paragraph 218) und die Bedeutung von Selbsthilfe. Fotografisch setzt sich die Künstlerin mit ihrer Beziehung zu ihrem Umfeld, ihren Freund*innen und Wegbegleiter*innen auseinander.

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Ausstellungsansicht “Aus der Krankheit eine Waffe machen”, Foto: Eric Tschernow.

Mit der Ermüdung einer leistungsgetriebenen Gesellschaft befasst sich Kallia Kefala in ihrer sanften und verträumten Installation und Videoarbeit “Müde”. Eingewickelt in eine weiße Bettdecke, bewegt sich Kefala kriechend durch den Bildraum. In einer Sequenz sitzt sie, immer noch in die Decke gehüllt, schläfrig gähnend vor dem Arbeitsamt. Dem Konzept von Leistung und Schnelllebigkeit setzt sie bewusst die Entschleunigung entgegen und erschafft einen in Watte verpackten Traum mit pastellfarbenen Tönen, Teddybären und Schaumstoff-Konfetti. Auf humorvolle und beruhigende, nicht anklagende Weise, öffnet die Künstlerin das Verständnis für das Müdesein in all seinen Facetten und Ausprägungen.

Die Bestandsaufnahme zeigt: Vielerorts werden den beeinträchtigten Menschen Barrieren aufgestellt. Die Ausstellung “Aus der Krankheit eine Waffe machen” regt zur Reflexion an und verdeutlicht, wie inklusives Miteinander gelingen kann. Im Kontext der Ausstellungspraxis zeigt sie, wie unterschiedliche, bisher unterrepräsentierte Perspektiven integriert und inklusive Vermittlung gestaltet werden können. Diese überzeugend kuratierte Ausstellung ist ein Prototyp dafür, wie sich diskriminierende gesellschaftliche Barrieren abbauen lassen. Jetzt liegt es an uns, gemeinsam den nächsten Schritt zu gehen.

WANN: Die Ausstellung “Aus der Krankheit eine Waffe machen” läuft noch bis zum 18. August.
WO:
Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Mariannenplatz 2, 10997 Berlin.

Am 12. August findet um 18 Uhr im Rahmen der Ausstellung ein Podium und am 18. August die Finissage mit kuratorischer Führung von Linnéa Meiners statt. Alle Veranstaltungen sowie der Eintritt in die Ausstellung sind kostenfrei.

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