Eine Frage der Ausgewogenheit
Tong Kunniao bei Hua International

2. Oktober 2020 • Text von

Sein künstlerisches Material findet er auf Müllhalden und Flohmärkten. Der chinesische Künstler Tong Kunniao arbeitet mit dem, was die Gesellschaft längst aussortiert hat. In seinem Werk hinterfragt er die Endlosigkeit unserer konsumorientierten Lebensweise und die stetige Suche nach Gleichgewicht. Gerade ist er in einer Einzelausstellung bei Hua International in Berlin vertreten. Mit gallerytalk.net sprach er über Berlin, Heidegger und Balance.

Links eine Drahtskulptur mit roten Elementen, rechts eine Skulptur mit einem silbernen Handschuh

Tong Kunniao, Red Tail Double Egg Birds, 2020 (left); Mop Boxer, 2020 (right) © Hua International.

gallerytalk.net: Anlässlich des Berliner Gallery Weekends eröffnete deine Ausstellung “Just Stay in The Cold” bei Hua International. Es handelt sich um eine vielfältige Präsentation von Mixed-Media-Installationen und Malereien gepaart mit teilweise animalischen Skulpturen, wie “Red Tail Double Eggs Bird” von 2020, die ich ziemlich amüsant finde. Welche Geschichte erzählst du damit?
Tong Kunniao: Die Berliner Ausstellung zeigt eine Vielfalt meiner “Balancing Birds”-Skulpturen, die jeweils auf ihrem Drehpunkt balancieren. Tatsächlich handelt es sich bei jeder Skulptur um eine Reihe von Gesichtern und Porträts, die abstrahiert wurden. Inspiriert vom Film “Red Tails” habe ich die Arbeit “Red Tailed Double Egg Bird” kreiert: Der Film erzählt vom 2. Weltkrieg und den ersten schwarzen Piloten der USA, den Tuskegee Airmen. Bei dieser experimentellen Bombertruppe wurden jegliche institutionelle sowie rassistische Beschränkungen aufgehoben. Ihre Flugzeuge sind mit “roten Schwänzen” bemalt. Die beiden Kugeln meiner Skulptur unter dem rot bestrumpften Unterteil stellen ein Paar roter, geschwärzter Pupillen dar. Ein paar Augen, die gegen die Ungleichheit kämpfen. Ein Zustand ständiger Konfrontation und  Suche nach einer Art Gleichgewicht.

Links eine Faust, die auf einen silberfarbenen Boxhandschuh schlägt

Tong Kunniao, Mop Boxer (detail), 2019, © Hua International.

In deinen Skulpturen wie eben dem “Red-tailed Double Egg Bird” verarbeitest du Materialien wie Gummi, Draht, Federn – man verliert sich regelrecht in den fantasievollen Plastiken, die mich an surrealistische Werke von Max Ernst oder Dalì denken ließen. Ähnlich wie diese Künstler, verarbeitest du die Objets trouvés zu neuen Kreationen. Siehst du dich in der Tradition surrealistischer Skulptur?
Ich kreiere nicht “unbewusst”, sondern sehr bewusst und rational, indem ich mein Werk und den Zustand der Welt anschaue. Jede Skulptur in der Ausstellung hat absichtlich einen Dreh- und Angelpunkt. Die Arbeit kämpft um ein ausgewogenes Verhältnis zum Produkt zentraler Macht. Die Arbeiten sind so konstruiert, dass sie in einem Dreieck zueinander in Beziehung stehen. Sie auf den einen Punkt auszubalancieren, ist wie Fliegen! Eine sehr reale Sache.

Den Großteil des Materials für deine Skulpturen findest du auf Müllhalden oder Flohmärkten. Beispielhaft steht es für den Überfluss an Konsumgütern in der heutigen Wegwerfgesellschaft. In den letzten Jahren gab es ja durchaus Maßnahmen zu einem umweltbewussteren Umgang; in Deutschland wurden beispielsweise Plastiktüten abgeschafft. Trotzdem hat man den Anschein, dass der Mensch sich in seinem konsumorientierten Dasein kaum ändern wird. Ist unsere Gesellschaft dahingehend überhaupt zu retten?
Mich interessieren die Materialien nicht aus einem ökologischen Aspekt, sondern ihre jeweilige Bedeutung und deren Eigenschaften, die mit den verschiedenen Orten und Räumen verbunden sind, in denen sie hergestellt werden. Ich denke sehr oft darüber nach, wie umweltschädlich ich als Künstler bin, dass ich zu viel Müll schaffe, einschließlich meiner Arbeiten. Die konsumorientierte Lebensweise ist endlos, obwohl wir alle wissen, dass es schrecklich ist.

Links eine Skulptur mit einem Netz, rechts eine Skulptur mit weißen Elementen.

Tong Kunniao, Little Black Widow, 2020, (right); Red Tail Double Egg Birds, 2020 (left) © Hua International.

In der Ausstellung in Berlin geht es außerdem um Fragen nach Fragilität und Gleichgewicht. Du bringst Heideggers Begriff der “Geworfenheit” ins Spiel. Heidegger drückt damit aus, dass die menschliche Existenz in die Welt gesetzt wird, ohne sich dagegen wehren zu können und sich mit dem Ist-Zustand auseinanderzusetzen hat. Meiner Meinung nach klingt das sehr determiniert; fast als wäre der Mensch ohne freien Willen. Wie siehst du das?
Der freie Wille ist ja an einen Drehpunkt gebunden: Freiheit ist eine Entscheidung, die man in Balance trifft. Genau wie bei meiner Arbeit, bei der ein seltsamer Vogel mit Boxhandschuhen auf einem Wischmopp-Stil landet. Das Werk ist ein Porträt eines Reinigungsmannes aus meiner Ateliernachbarschaft. Er macht einen sehr starken Eindruck, wirkt wie ein Gangster oder Boxer. Jedoch hat auch er nach freiem Willen entschieden, einen anderen Lebensweg zu gehen. Vielleicht hatte er keine andere Wahl als das zu tun. Der Status einer gewissen Endgültigkeit, den die Ausstellung vermitteln möchte, und der viele Möglichkeiten zu bieten scheint, ist in der Tat eine Ablehnung. Wir betrachten es als freiwillige Abreise, aber manchmal ist es eine Vertreibung.

Einsicht ins Studio von Tong Kunniao

Tong Kunniao, Studio View, © Hua International.

Eigentlich nimmt der Titel der Ausstellung “Just Stay In The Cold” ja genau diesen Gedanken der Vertreibung auf, dass der Mensch aus gesellschaftlichen Strukturen ausbrechen könne. Das steht ja eigentlich konträr zu Heideggers Ansicht, oder nicht?
Der Hintergrund von “Just Stay In The Cold” ist kein aktiver Versuch, aus sozialen Strukturen auszubrechen, sondern vielmehr das Ergebnis einer Notwendigkeit, nämlich: zu akzeptieren, dass wir gezwungenermaßen ein Teil dieser Strukturen sind. Wir werden in die Gesellschaft hineingeworfen, aber nicht automatisch akzeptiert. Auch die Werke meiner Ausstellung scheinen flüchten zu wollen, um ein neues Gefühl von Existenz und Dasein zu finden, aber in Wirklichkeit sind sie alle gezwungen zu bleiben.

Mensch in gelbem Anzug auf einem silbernen Flieger

Tong Kunniao, Balancing Bird, 2019 © Tong Kunniao.

Aufgrund der Reisebeschränkungen konntest du nicht an der Eröffnung der Ausstellung teilnehmen. Eigentlich war vorgesehen, dass du eine Performance in den Räumen der Galerie inszenierst. Wie hätte das ausgesehen?
Ich hatte geplant, nach Berlin zu kommen, um meine “Balancing Bird”- Performance vorzubereiten und wollte dafür eine spezielle Stahlkonstruktion herstellen. Ich dachte bereits an verschiedene lokale Gegengewichte, mit denen ich mich ausbalancieren konnte: Straßenmüll, Wasser aus der Spree oder ein Berliner Kind, wie beispielsweise der Sohn der Galeristen, der auf der schwebenden Skulptur sitzt. Ich selbst fungierte ebenso als Gegengewicht, um das unstete Gleichgewicht meiner verschiedenen Berliner Begegnungen darzustellen.

Das klingt interessant. Wie sehen denn zukünftige Projekte aus?
Die Zukunft funktioniert. Ich selbst weiß es noch nicht, vielleicht weiß es ja Berlin!

WANN: Die Ausstellung “Just Stay In The Cold” ist noch bis Samstag, den 12. Dezember, zu besichtigen.
WO: Hua International, Potsdamer Straße 81B, 10785 Berlin.

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