Eine Nacht unterm Nippel
Kunstvoll schlafen im "Boob Hill" von Laure Prouvost

25. August 2021 • Text von

Wer dieser Tage durch den Metzlerpark spaziert, dem mögen zwei Hügel ins Auge fallen. Die aufgesetzten Nippel – einer fungiert als Fontaine ­– weisen sie als Brüste aus. Es handelt sich um eine Arbeit von Laure Prouvost für das Projekt „tinyBE“. Man kann darin nächtigen. Das musste ich ausprobieren.

Zwei grasbewachsene Hügel mit Nippeln on top, einer speit Wasser.
tinyBE Frankfurt am Main. Laure Prouvost: Boob Hills Burrows, 2021. Foto: Wolfgang Günzel.

Für gewöhnlich bitte ich eher selten fremde Männer von der Straße weg in mein Schlafzimmer. Aber es waren besondere Umstände. Ich bewohnte eine grasbewachsene Brust und die zwei Männer hatten ein Kind dabei, das so neugierig schielte, dass ich nicht anders konnte, als mich als enthusiastische Gastgeberin aufzudrängen. Bei der Brust handelte es sich um eine Wohnskulptur der französischen Künstlerin Laure Prouvost, bei Männern und Kind weiß ich es nicht so genau. Es waren interessierte Passanten und wer kann ihnen das Interesse verübeln? Ich wollte da schließlich auch unbedingt rein.

Holzverkleideter Innenraum der Schütte-Hütte mit einem Bett, einem Hocker und einer Lampe.
tinyBE Frankfurt am Main. Thomas Schütte: Spartà Hut, 2021. Foto: Wolfgang Günzel.

Im Metzlerpark, dem Garten um das Frankfurter Museum für Angewandte Kunst, stehen derzeit sechs jedenfalls in der Theorie bewohnbare Skulpturen. Neben Prouvosts sogenannten „Boob Hills“ – es gibt zwei Hügel, einer mit Innenraum, einer mit Fontaine drauf – finden sich im Metzlerpark etwa ein von den Art Guides vor Ort liebevoll als Schütte-Hütte vorgestelltes Holzhaus mit Sauna-Flair, der „Spartà Hut“ von Thomas Schütte, und eine Art pilzverkleideter Wurm, der „MY-CO Space“ vom interdisziplinären Kollektiv MY-CO-X. Die artsy Unterkünfte sind Teil des Projekts „tinyBE – living in a sculpture“, das einen künstlerischen Zugang zum Nachdenken über sinnstiftendes Zusammenleben und nachhaltige Raum- und Ressourcennutzung legen will. Jeweils eine weitere Skulptur steht am Hessischen Landesmuseum in Darmstadt und auf dem Kranzplatz in Wiesbaden.

Die Schneckenhaus-förmige Wohnskulptur von MY-CO-X unter einem Sonnensegel.
tinyBE Frankfurt am Main. MY-CO-X: MY-CO-SPACE, 2021. Foto: Wolfgang Günzel.

Ich also hatte mich für die Brüste entschieden. Weniger um mich inhaltlich am Bild der Mutter, dem Nährenden, dem Schutzgebenden, dem Kreislauf des Lebens abzuarbeiten, da will ich ehrlich sein. Mir war nach Hobbiton und Nächtigen unter Muranoglas-Nippel. Unter den Augen aufmerksam unauffällig schielender Spaziergänger*innen stiegen meine Begleitung und ich also über das Absperrseil und machten uns an der Holztür zum Innenraum des Boobs zu schaffen. Die wollte nicht ganz, wie wir wollten, sprang dann schließlich auf. Draußen Sonnenstrahlen, drinnen ein eher dusterer Tunnel, den zu durchqueren sich für einigermaßen ausgewachsene Personen in Bomberjacke sowohl in puncto Höhe als auch Breite durchaus herausfordernd gestaltete.

Lehmverkleideter Innenraum der Skulptur "Boob Hills" von Laure Prouvost. Man sieht ein Bett mit weißer Bettwäsche, eine Lampe an der Wand und durch das Loch in der Decke fällt licht.
tinyBE Frankfurt am Main. Laure Prouvost: Boob Hills Burrows, 2021. Foto: Teri Romkey.

Wände, Boden, Decke – alles Lehm, abgesehen vom Decken-Nippel keine Fenster. Hin und her gerissen zwischen dem strahlend weiß bezogenen Bett (sehr bequem) und dezenten Verließ-Vibes (bisschen besorgniserregend) richteten wir uns ein, soweit Platz war. Jacke an den Kleiderhaken im Wesentlichen. Die Tür hatten wir hinter uns ins Schloss gezogen, von Außenwelt war wenig übrig. Drei Lampen, ein Tee-Service, einige Bücher – darunter Alice Schwarzer, John Gray und mein persönlicher Favorit: Jan Feders „Die Welt um dich herum IV.: Der Hamster“. Es läuft der Fernseher, Wetterberichte, mehr Wetterberichte. Das ist natürlich eine Videoinstallation. Wir schalten trotzdem schnell ab. Der Glasnippel bricht das Sonnenlicht, es erhellt leicht rötlich unser Erdloch. Wäre man jetzt allein, vielleicht würde man nachdenken. Wir aber sind zu zweit, schauen uns wissend an und sind uns schnell einig, dass man nun erst einmal etwas essen gehen sollte.

Baumhaus von Terence Koh inmitten von Bäumen. Zu Füßen des Hauses eine Art improvisierter Garten.
tinyBE Frankfurt am Main. Terence Koh: spiral home, 2021. Foto: Wolfgang Günzel.

Wie eigentlich wollen wir leben? Und was brauchen wir dazu? Freiheit, Flexibilität, Design und ein Minimalismus, den man sich erst einmal leisten können muss – so in etwa die Idee von Tiny Houses. Noch nie wurde begrenzter Wohnraum so romantisch vermarktet. Zielgruppe: eine Art Adventure-Elite. Darum kann es bei „tinyBe“ nicht gehen, auch wenn der Name entsprechende Assoziationen weckt. Form, nicht Funktionalität stehen bei den Skulpturen im Vordergrund. Das glaubt man sofort. Wer sich zum Beispiel über Nacht in Christian Jankowskis Behausung „Bodybuilding (Mies van der Rohe)“ wagt, muss sich mit einer Hängematte im angeschnittenen und entsprechend offenen Gugelhupf begnügen, wer Terence Kohs „spiral home“ wählt, wird sich auf einer Matratze im Baumhaus betten. Als Gedankenspiel, als Utopie taugen solche Entwürfe allemal. Wer aber Schutz sucht, wird ihn in diesen Skulpturen nicht finden. Dafür sorgen maximal die vier Guards, die von 22 Uhr am Abend bis 8 Uhr morgens das Gelände sichern.

Der Innenraum des "MY-CO-SPACE" ist aus einer Art Holzgerippe geformt. Darin: Teppiche, Kissen, ein Mikroskop, darüber eine Lampe.
tinyBE Frankfurt am Main. MY-CO-X: MY-CO-SPACE, 2021. Foto: Wolfgang Günzel.

Nach denen halte ich auch direkt Ausschau, als ich nach Einbruch der Dunkelheit wieder den Metzlerpark betrete. Ein bisschen mulmiges Gefühl ist da nämlich noch. Es ist Montag, die Gegend zu der Zeit nicht sonderlich belebt, das Türschloss zum Boob ein Einfaches. Seien wir mal plakativ: Wer hört uns schreien? Die Sorgen jedoch: denkbar unbegründet. Da sind die Guards, wir quatschen kurz, und vor allem sind da Nachbarn. Auch der bereits erwähnte „MY-CO Space“ ist in dieser Nacht bewohnt. Die anderen Gäste wie auch wir sind hellauf begeistert, man zeigt sich gegenseitig die Unterkünfte, scherzt über die im Bad-Wagen bereitgestellten Bademäntel aus dem Hotel Frankfurter Hof, die vielleicht den Glam zur angeteasten „Art ‚Glamping‘“ beisteuern sollen – Camping bedeutete in dem Fall übrigens vor allem nachts raus zum Pinkeln.

Im Metzlerpark steht ein großer schwarzer Ofen von Sterling Ruby. Darin lodern Flammen, davor steht eine Holzbank.
tinyBE extra Frankfurt am Main. Sterling Ruby: BLACK STOVE 3, 2014. Foto: Wolfgang Günzel.

Und dann ist es auf einmal da, flackert auf, dieses Gefühl von Gemeinschaft, beinahe dörflich. Die ihr Haus im Rücken, wir unseres. Wir blicken auf den überdimensional großen schwarzen Ofen von Sterling Ruby, der anders als die meisten Skulpturen nicht extra für „tinyBE“ entstanden ist, dafür aber eine neue Bank, das „Remnant Memorial“, bekommen hat. An Samstagen gibt’s da Feuer, hatten uns die Art Guides gesagt. Schade eigentlich, dass nicht Samstag ist. Man könnte jetzt hier noch nett zusammensitzen. Mit den Guards vielleicht. Sicher nicht mit den Männern vom Nachmittag, die nach Besuch des Boobs großzügig angeboten hatten, nachts zum Feiern wiederzukommen. Och nö. Auf jeden Fall aber mit unseren Nachbarn. Vielleicht würde sich noch wer dazu gesellen, angezogen von der heiter plaudernden Gruppe aus offensichtlich bis eben Fremden. Das jedenfalls wäre, ausgelöst von der Kunst, eine Art der Zusammenkunft nach meinem Geschmack.

Vielen Dank für die Einladung, tinyBE!

WANN: “tinyBE – living in a sculpture” läuft bis Sonntag, den 26. September.
WO: Metzlerpark, Frankfurt; Hessisches Landesmuseum, Darmstadt; Kranzplatz, Wiesbaden.

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