Alle Ratten leben hoch
Thomas Lanigan-Schmidt bei Buzzer Reeves

14. Mai 2025 • Text von

Die Schönheit in Weggeworfenem zu sehen, verlangt nach einer poetischen Bildsprache. Sehr wenige sprechen sie. “Upcycling” wäre der unromantische Zwilling. Den Arbeiten von Thomas Lanigan-Schmidt wird ein solcher Umnutzungsbegriff nicht gerecht. Mit kleinteiligen Mosaiken aus Verpackungsmaterial, majestätischen Aluminium-Ratten und glitzernden Lasagne-Formen erzählt der Künstler bei Buzzer Reeves ein schillerndes Märchen, erhebt die Übersehenen.

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Thomas Lanigan-Schmidt, Installation view, “Lemon Sour Balls in Cherry Syrup”, Buzzer Reeves. Photo: Henrik Stromberg.

Durch eine schmale Tür hindurch massiert, befinden sich Besucher*innen des Ausstellungsraums Buzzer Reeves direkt in Thomas Lanigan-Schmidts “Lemon Sour Balls in Cherry Sirup”-Universum. Es ist ein bisschen wie im Film über den märchenhaften Ort Narnia, gerade noch in einem etwas muffigen Berliner Treppenhaus geht es durch einen Schrank in eine andere Welt, in der majestätische Ratten regieren und Elton John kurz seine rosarote Brille abgelegt hat. Es geht sich etwas leichtfüßiger hier, als würden einem die vielen kleinen bunten Inseln, die Lanigan-Schmidts Arbeiten entstehen lassen, ein bisschen Last abnehmen.

Neben der ersten gesichteten Ratte, die auf einem großen weißen Kubus in der Raummitte regiert, prangen zwei üppig verzierte goldene Kelche. Zusammengedrückte Aluminium-Bahnen formen den Trinkpokal. Ihn schmücken verschiedenfarbige Plastik- und Papierschnipsel, die von Tackernadeln zusammengehalten in die Sphären der Edelsteine hineintäuschen. Die silbrig-blaue Alu-Ratte regt sich nicht, hat sich mit ihren roten Augen gar wie hypnotisiert vor den feinen Schein-Steinen der Prunk-Pokale festgesessen. Ein Plastikschild tut, als wäre es ein Wecker: Angeblich ist es 7.08 Uhr. Das Bildchen einer Kuh steht auch dort – wie das des Lovers auf dem Nachttisch – und über der ganzen Szene baumelt ein Mobile aus Mond, Fisch, Oktopus und Plastikstreifen.

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Thomas Lanigan-Schmidt, Installationview, Buzzer Reeves, “Lemon Sour Balls in Cherry Syrup”. Photo: Henrik Stromberg.

Um den Kubus herum schmücken Lanigan-Schmidts “Placemats”, also Tischsets, die Wände. Wobei Tischsets ein fast zu schmuckloses Wort ist, um ihre komplexe, kleinteilige Schönheit einzufangen. Jede dieser Collagen setzt sich aus kleinsten Materialstreifen zusammen. Die meisten schillern, wandern wie glitzernde Fliesen über die Fläche. Pfade, Bordüren und Rahmungen entstehen, die hier und da kleine Highlights wie kleine Comic-Küken, Papageien oder einer gezeichneten Figur im Schottenrock markieren. Seine Tischsets erinnern in ihrem Glanz an Glas, für das sich Lanigan-Schmidt während einer Zeit in Venedig zunehmend begeisterte. Doch anstatt sich dem fragilen hochwertigen Material hinzugeben, bleibt er bodenständig und seinen Kunststoffen treu, arbeitet mit ihnen immer einen Hauch autobiografischen Arbeiterklassenhintergrund ein.

Aus Aluminium gedrehte und gedrückte Formen treffen auf die Brutalität der Tackernadel, geklebt ist hier nichts. Jede der aufwendigen Collagen ist mit transparentem Klebeband umschlagen und somit im besten Fall für die Ewigkeit konserviert. Lanigan-Schmidt hat sich Zeit gelassen, die winzigen Teile zu einer atemberaubenden Plastik-Tapisserie, einem wundersamen Mosaik zu verbinden und diese Zeit überträgt sich mit seinen Collagen in den Raum. Sie steht sogar still, es ist immer noch 7.08 Uhr. 

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Thomas Lanigan-Schmidt, “Untitled (Placemats)”, ca. early 2000s, mixed-media collage, 30 × 43 cm // 33 × 43 cm // 41 × 29 cm. Photo: Henrik Stromberg.

Immer wieder werden Besucher*innen von Details, Ornamenten, Kelchen und madonnenhaften Gesichtern in den Collagen in einen kirchlichen Kontext geschubst. Elemente und Gesichter erinnern an Heiligenbilder und das kommt nicht von ungefähr. Lanigan-Schmidt wuchs streng katholisch auf, war von Haus aus von religiösen Bildern umgeben. Später konvertierte er zum orthodoxen Christentum.

Dem Prunk der Kirche kann Lanigan-Schmidt offensichtlich stets etwas abgewinnen, denn da kommen bis heute immer neue Engel hinzu. Sie sind dem Format und der Stilistik der Papierstreifen, auf denen sie abgebildet sind, nach zu urteilen, in eine Foto-Box geflattert, um ein paar Schnappschüsse von sich zu machen. Eigentlich hat Lanigan-Schmidt die “Photobooth Angels”, die zu den neuesten Arbeiten bei Buzzer Reeves zählen, jedoch auf einer Taschentuchboxpappe gezeichnet. Auf jedem der sechs Streifen singen Engel unterschiedlichster Formen und Farben mit runden Mündern vermutlich davon, wie – “ooooh” – himmlisch das Leben ist. 

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Thomas Lanigan-Schmidt: “The Byzantine dialogue between fashion and art”, ca. 2004, mixed-media collage, 46 × 36 cm. // “Photobooth Angels”, 2024, Sharpie, ballpoint pen, gel pen on tissue box, 21 × 5 cm. Photos: Henrik Stromberg.

Lanigan-Schmidt ist 77 Jahre alt. Seit über einem Jahr liegt er im Krankenhaus. Sein Fenster zur Welt sind der Fernseher – und Taschentücherboxen. Sie dienen ihm gegenwärtig als Arbeitsmaterial. Auf den Innenseiten der auseinandergefalteten Boxen zeichnet der Künstler magische Szenarien.

Im anliegenden Raum zu sehen sind feenhafte Gestalten mit Regenschirmen. Während sie auf einer Säule tanzen, flimmert ein Fernseher in der Ecke. Da gucken Menschen aus Fenstern in einer für New York typischen Backsteinfassade, draußen singen die Engel und dort wächst eine Palme in einer schachbrettgefließten Eingangshalle. Die Serie der Taschentuchbox-Zeichnungen zieht sich wie Kacheln über eine ganze Wand. Jede Auslassung, die mal der Entnahme der Tücher diente, formt nun einen vulvaresken Schlitz, ein Fenster, durch das sich Lanigan-Schmidt in die Welt träumt und den Traum in die Welt holt.

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Thomas Lanigan-Schmidt, Untitled, 2024–2025, Sharpie, ballpoint pen, gel pen on tissue box, various sizes. Photo: Henrik Stromberg.

In direkter Nachbarschaft und in Blickachse zur heiligen Ratte in silbrig: das nächste Nagetier. Diesmal ist es ein goldenes Exemplar, das auf gestapelten Pappkartons in einer prächtig auscollagierten Lasagne-Schale thront. Sie markiert einen wahrlich kometenhaften Aufstieg des Tiers: Grandezza statt Gosse – nix mit “von der Kanalisation zur Kochmütze”. Das ist die schillerndere Aufstiegsgeschichte einer Ratte als Disneys “Ratatouille”. Dies hier ist die Aufstiegsgeschichte einer New Yorker Ratte.

Die Ratte und das collagierte Plastik versprühen eine Prise Aktivismus im Raum, sie scheinen symbolisch für die Unterschätzten, Übersehenen und Verdrängten zu stehen. Jede Arbeit von Lanigan-Schmidt, der selbst 1969 Teil des Stonewall-Aufstandes für mehr Rechte der LGBTQI+-Community war, schafft ein bisschen mehr Platz für marginalisierte Gruppen, versammelt alle Farben des Regenbogens in sich. 

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Thomas Lanigan-Schmidt, Installation views, Buzzer Reeves, “Lemon Sour Balls in Cherry Syrup”. Photos: Henrik Stromberg.

So glamourös die Ratten hier auch inszeniert scheinen, abgehoben ist bei Lanigan-Schmidt nichts. Der Künstler bleibt sich seines Arbeiterschaftshintergrundes stets bewusst, arbeitet sein Umfeld, sein bescheidenes Wesen, seine Geduld ein. Er greift trotz seiner Begeisterung für das Material Glas zu Alu und Plastikmüll, der, wenn er in der Welt herum liegt, schadet. Ist Kunststoff jedoch zu Kunst verarbeitet, generiert er eine beruhigende Langlebigkeit. B-Ware wird 1A-Werk. Thomas Lanigan-Schmidts Ausstellung “Lemon Sour Balls in Cherry Sirup” bei Buzzer Reeves ist, wie der Titel verspricht, süß, sauer und fruchtig – und dazu ganz einfach rattenscharf.

WANN: “Lemon Sour Balls in Cherry Sirup” läuft noch bis Samstag, den 24. Mai. Am letzten Tag der Ausstellung findet von 16 bis 18 Uhr ein Book-Launch von Thomas Lanigan-Schmidts und Daragh Reeves‘ Buch “Rat Attack in Hells Kitchen” statt. 
WO: Buzzer Reeves, Skalitzer Straße 76, 10997 Berlin.

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