Jugend ad acta legen
Thomas Cap de Ville in der Galerie Lars Friedrich

8. Oktober 2024 • Text von

Zwischen Freund*innenschaft, Exzess, Schule und Familie: In schweren Buchobjekten konserviert zeichnen Thomas Cap de Villes gesammelte Archivmaterialien ein Bild seines Alltags im Frankreich der 1990er-Jahre. Mit “shrugs” in der Galerie Lars Friedrich verabschiedet er sich von großen Teilen seiner Jugend.

Thomas Cap de Ville, Book V, 2018, Mixed media, 79 x 93 x 10 cm

Getrocknete Blumen, Notizzettel, Sticker, alte Fotografien, Stofffetzen, Engelsfiguren und Tablettenschachteln – die Seiten von Thomas Cap de Villes Buchobjekten in der Galerie Lars Friedrich sind voll beladen und lassen sich nur schwer umblättern, ihr Gewicht drückt sie in den Schaumstoff, der zwischen Objekt und Stele platziert ist.

Aus der Modebranche kommend, begann der Künstler im Jahr 2017 damit, persönliche Archivmaterialien aus seiner Jugend in Buchobjekten zu bündeln und zu archivieren. Die Serie an Buchobjekten, die mittlerweile zwölf Exemplare umfasst, halten ein bewegtes Heranwachsen im ländlichen Frankreich der 1990er Jahre und dem darauf folgenden Großstadtleben in Paris der frühen 2000er fest.

Installation view shrugs by Thomas Cap de Ville, Galerie Lars Friedrich, Berlin, 2024

Dabei entsteht kein kohärentes Narrativ der Entstehung seiner Person, keine Genealogie eines Subjekts, sondern eine kaleidoskopische Betrachtung der eigenen Vergangenheit, die sich zwischen extremen Höhen und großen Tiefen des Erlebten materialisiert. Während einige der Materialien Spuren deutlich offenlegen – abgelaufene Ausweise des Künstlers geben Hinweise auf verschiedene Stationen, Verkehrstickets zeichnen unternommene Wege nach, leere Tablettenblister geben Hinweise auf die darin enthaltenen Wirkstoffe – wirken andere eher wie assoziative Erinnerungsstützen und bleiben offen für Interpretation.

Gerade in Zeiten von Krisen und Umbrüchen kann Sammeln rückwirkend identitätsstiftend wirken und einen Beitrag zur biographischen Illusion leisten – wenn auch in Teilen romantisiert oder dramatisiert. Stellenweise in kleine Plastiktütchen eingepackt, die wiederum mittels transparentem Klebeband an den Seiten ver- und geklebt sind, sind Cap de Villes gesammelte und gefundene Objekte, Skizzen und Notizen, die er in seinen Kompositionen zusammenführt, für immer darin festgehalten. Auch ohne die christliche Symbolik, die sich an unterschiedlichen Stellen seiner Objekte findet, wecken seine Kompositionen Erinnerungen an mit Reliquien versehener Altäre.

Thomas Cap de Ville, Book XI, 2024, Mixed media 43 x 65 x 8 cm

Dies wird dadurch unterstützt, dass bei Cap de Villes Werk die (vergangene) leibliche Präsenz eine zentrale Rolle spielt, sowohl in den Fotografien von nackten Körpern und Nahaufnahmen von Gesichtern, als auch in tatsächlichen physischen Hinterlassenschaften wie Haarlocken: er konserviert hier nicht nur seine eigenen Erinnerungen, sondern auch die Leben derer, die ihm nahe standen.

Während sich die meisten seiner Buchobjekte immer wieder punktuell thematisch verdichten, zieht sich das Motiv der Beziehungen – freundschaftlich, familiär wie romantisch – wie ein roter Faden durch seine autobiographischen Werke. So ließ er sich etwa Portraits von befreundeten Personen schicken, die er mit Archivfotos kombinierte. Seine neueste Arbeit widmete Cap de Ville den fünf wichtigsten Frauen in seinem Leben. Mit seinen vollflächigen Fotografien und handgeschriebenen Briefen steht dieses im Gegensatz zu einigen seiner früheren Buchobjekte, die das schnelle, risikobereite und hedonistische Leben kompositorisch aufzugreifen scheinen.

Installation view shrugs by Thomas Cap de Ville, Galerie Lars Friedrich, Berlin, 2024

Neben seinen persönlichen Erfahrungen schildert er durch das Integrieren popkultureller aufgeladener Materialien und Referenzen das Bild einer Generation, die ihre formierenden Erfahrungen in den frühen 1990ern machte. Der kollektiven Erinnerung stellt er jedoch immer wieder sein subjektives Empfinden davor, wie auch in seinen Zeichnungen, deren dargestellte “Personas” zwar Charaktere der Bücher verkörpern, jedoch oft ihm selbst ähneln.

Während Cap de Ville seine Buchobjekte auch “Tombstones of his Childhood” (dt. Gräber seiner Kindheit) nennt, verweist der Titel der Ausstellung “shrugs” auf die Geste eines Schulterzuckens – eine fast beiläufige Haltung neu gefundener Gleichgültigkeit gegenüber den in seinen Arbeiten thematisierten Erfahrungen. Beides in Kombination verdeutlicht, dass Cap de Villes Dokumentation seiner Jugend weder nach den Ursprüngen seiner Identität noch nach einer linearen Erzählweise sucht. Vielmehr verfolgt er eine Praxis, die in Form eines Tagebuchs Zugehörigkeit, Versöhnung und Abschied verhandelt – und dadurch mit Erfahrungen abschließt.

WANN: Die Ausstellung “shrugs” von Thomas Cap de Ville läuft noch bis Samstag, den 26. Oktober.
WO: Galerie Lars Friedrich, Kantstraße 154a, Berlin.

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