Tentakuläre Kunst
Fluide Eindrücke von der Venedig Biennale 2019

27. Mai 2019 • Text von

Kunst, Spritz und Oktopoden. Bei der diesjährigen Biennale in Venedig scheinen weniger denn je die künstlerischen Positionen der einzelnen Länderpavillons im Mittelpunkt zu stehen als vielmehr die zentrale Ausstellung im Hauptpavillon der Giardini und den Hallen des Arsenale. Unsere Autorin Mira Anneli Naß berichtet aus Venedig.

Laure Prouvost: Deep See Blue Surrounding You / Vois Ce Bleu Profond Te Fondre, French Pavilion at the 58th Venice Biennale, 2019. © Giacomo Cosua.

Der litauische Pavillon ist mit seiner beeindruckenden brechtschen Performance-Oper Sun & Sea (Marina) des Künstlerinnen-Trios Rugilé Barzdžiukaite, Vaiva Grainytė und Lina Lapelytė aus guten Gründen mit dem Goldenen Löwen der Venedig Biennale 2019 ausgezeichnet worden, übt er doch ganz zeitgemäß vor allem Kritik am Lebensstil des vielen Reisens, am Konsum und der Arbeit. Doch mehr noch als die traditionelle Raubkatze scheint die diesjährige Biennale von einer oktopoden Denkfigur geprägt zu sein, die man in Venedig ansonsten vor allem auf den Speisekarten findet. Der von Laure Prouvost bespielte französische Pavillon etwa ist mit der intermedialen Arbeit Deep See Blue Surrounding You / Vois Ve Bleu Profond Fe Tondre eines der Highlights der diesjährigen internationalen Kunstausstellung. Abseits folkloristischer Inszenierungen von nationalen Identitäten kreiert die Künstlerin hier eine dialektische Installation aus drei ganz unterschiedlich gestalteten Räumen, deren vernetzte Strukturen sich die Charakteristika des Oktopusses zueigen machen, damit den Vorschlag einer flexiblen und fluiden, dezentralisierten Masse als tentakuläres Kollektiv und die Kunst als Form entsprechender Kommunikation unterbreiten: Da das Gehirn der Oktopoden in ihren acht Armen steckt, fallen fühlen, denken und schmecken bei diesen Tieren in eins und bilden ein vernetztes sensorisches Gefüge.

Natascha Süder Happelmann: Ankersentrum, German Pavilion at the 58th Venice Biennale, 2019. © Jasper Kettner.

Rauchende Tauben und in Kunstharz eingelassene Meeresobjekte, zu denen neben Fischen, Algen und Korallen mittlerweile auch allerlei technologischer Abfall gehört, entwerfen bei Provoust einen Ausstellungsraum des Anthropozäns, in welchem zudem diverse Realitäten korrelieren: So sinken die Besucher*innen dieses französischen Pavillons beim Betrachten der zentralen Einkanalprojektion nicht nur in die fiktive und affektiv-collagierte Narration ein, sondern auch in den weichen, beinahe gallertigen Bodenbelag, aus welchem korallenartige Formationen entwachsen. Eine solche Befragung von räumlichen ebenso wie sozialen Grenzziehungspraktiken findet sich in Venedig dieses Jahr immer wieder. Der von Natascha Sadr Haghighian bespielte Pavillon GERMANIA wirkt mit einer eingezogenen Betonstaumauer, im Raum verteilten Felsbrocken, die an eine völkisch-mythologische Materialikonographie à la Joseph Beuys erinnern und starren Performer*innen in grau-grünen Militäranzügen entgegen aller vorab inszenierter Komplexität und Kollektivität aber dann doch einfach wieder einfallslos deutsch.

Vielleicht verwundert es auch deshalb nicht, dass Haghighian als Unterzeichnerin von BDS-Petitionen einen latenten Hang zu sehr deutschen Traditionen hat? Das Thema der Anpassung, Aus- und Abgrenzung erhält mit der Kunstfigur Natascha Süder Happelmann, die auch auf Pressefotos nur mit einem kartoffelähnlichen Stein aus Pappmaché vorm Kopf zu sehen war, damit eine weitere überraschend passende Bedeutungseben. Die große Schwachstelle dieser Ausstellung liegt jedoch vor allem in der fehlenden Information: Die (vielen) Besucher*innen, die die auf Pressekonferenzen und über im Vorfeld veröffentlichte Videos konstruierte Konzeptualität nicht mitverfolgten, werden mit der Arbeit Ankersentrum letztendlich komplett alleine gelassen. Da hilft dann auch die tanzbare und damit inklusive musikalische Untermalung nicht, die in Anbetracht der Thematik ferner seltsam fehl am Platze wirkt.

Cyprien Gaillards Hologram von Max Ernsts Hausengel, © Cyprien Gaillard Courtesy Sprüth Ma-gers. Foto: Timo Ohler.

Im Mittelpunkt scheinen bei dieser Biennale zudem sowieso weniger denn je die künstlerischen Positionen der einzelnen Länderpavillons zu stehen als vielmehr die zentrale, von Ralph Rugoff kuratierte Ausstellung im Hauptpavillon der Giardini und den Hallen des Arsenale. Sicher kann der Direktor der Londoner Hayward Gallery zurecht dafür kritisiert werden, dass es sich bei den ausgewählten Künstler*innen hauptsächlich um diejenigen Namen des aktuellen Kunstbetriebs handelt, die in den vergangenen Jahren bereits in vielen zentralen Einzel- und Gruppenausstellungen international wahrgenommener Museen, Galerien, Sammlungen und Kunstvereinen hervortraten. Doch profitiert diese Biennale im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen ganz offensichtlich davon, dass die Reduktion auf 79 Künstler*innen zwar immer noch nicht genug abstrahiert, aber doch eine Konzentration zulässt und den Fokus auf das künstlerische Arbeiten lenkt, indem sowohl in den Giardini als auch im Arsenale Arbeiten derselben Positionen gezeigt werden. Dies ermöglicht den Besucher*innen einen Schwerpunkt auf ein vergleichendes Sehen hinsichtlich diverser künstlerischer Produktionsweisen zu setzen – dass dabei etwa jeweils die Hälfte der Arbeiten von Frauen und Männern sind, erscheint hier gänzlich unspektakulär und selbstverständlich wie nur selten. Vielmehr treffen einige der interessantesten gegenwärtigen Positionen aufeinander und ermöglichen respektive verstärken einen Dialog derselben. Rugoff versteht es dabei vor allem, unterschiedliche mediale Werke in einen konstruktiven Dialog treten zu lassen, ohne dass sich Malerei, Skulptur, Fotografie und digitale Arbeiten verständnislos gegenüberstehen.

Am deutlichsten wird das wohl im abgebdunkelten Oktagon des Hauptpavillons in den Giardini: Hier trifft Max Ernsts tanzender „Hausengel“ in Form sich drehender LED-Ventilatoren von Cyprien Gaillard auf die collagierten Arbeiten der Künstlers Dan Voh, der großformatige Gemälde in Form von Farbe auf Aluminiumplatten seines ehemaligen Lehrers Peter Bonde mit Worten in zarter Frakturzeichnung und intimen fotografischen Körperabbildungen kontrastiert. In dialektischer Ergänzung sind hier zudem fragmentierte Körperabgüsse von Yu Ji aus Schanghai zu sehen, von denen eine protesenhafte Arbeit sogar direkt auf einem der Aluminiumgemälde angebracht ist und damit eine direkte Kommunikation der Werke untereinander radikal zu visualisieren vermag. Hervor tut sich zudem vor allem auch Arthur Jafas The White Album: Jafa, der den goldenen Löwen als bester Künstler erhielt, setzt sich in dieser Videoarbeit mit dem Thema der White Supremacy auseinander und kreiert anhand einer sorgfältigen Kombination aus Found Footage einen starken Assoziationsteppich, der Betrachtende bisweilen fassungslos zurück lässt.

Kahlil Joseph: BLKNWS, 2018. 2-channel broadcast. Courtesy of the artist.

Auf diese Weise korrespondiert er auch direkt mit seinem Langzeitarbeitspartner, dem Filmemacher Kahlil Joseph, der mit der Videoarbeit BLKNWS die Grenzen zwischen fiktivem und dokumentarischem Bildmaterial verschwimmen lässt: Mit Hilfe von YouTube Videomaterial, Ammatueraufnahmen, Instagram-Stories und Internetmemes, stellt er in seiner Zweikanal-Installation einen Bilderfundus in den Mittelpunkt, der sich auf schwarzes amerikanischen Leben fokussiert und damit ähnlich wie Jafa die Frage danach stellt, wer spricht – und wer sieht. Und auch wenn düstere Eindrücke wie die virtuellen Welten Jon Rafmans, die leidenden Figuren Ed Atkins oder die vom Gebälk der Arsenalehalle wie menschliche schwarze Hüllen hängenden Latexpuppen von Alexandra Bircken ein dystopisches Bild zu zeichnen vermögen, bilden die zahlreichen starken Positionen, die vielen chinesischen, afroamerikanischen und afrikanischen Positionen (sehr sehenswert: Ghanas erster Pavillon!) doch eine kollektive Masse, die sich der Denkfigur des Oktopoden annähert und ein dezentralisiertes fluides Gefüge zu entwerfen weiß, das weniger aus einem als aus vielen miteinander kommunizierenden Körpern besteht.

WANN: Noch zu sehen bis zum 24. November.
WO: LA BIENNALE DI VENEZIA 

Weitere Artikel aus Venedig