Ist Blut dicker als Wasser?
„Unruly Kinships“ in der Kölner Temporary Gallery

17. Februar 2023 • Text von

Gibt es Verwandtschaft jenseits familiärer Bindung? Sind uns enge Freund*innen doch näher als lange nicht gesehene Verwandte? Die Kölner Temporary Gallery untersucht anhand zahlreicher künstlerischer Positionen unterschiedliche Formen von Beziehungsgeflechten, die Antworten auf die Probleme einer modernen Gesellschaft geben und das Modell der Kleinfamilie ergänzen. Vielleicht ist es an der Zeit nicht nur Familie, sondern Gesellschaft gänzlich neu zu denken.

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“Unruly Kinships”, Temporary Gallery, Exhibition View, Simon Vogel.

Vorschlaghämmer treffen auf Metall, Autos bersten, werden gemeinschaftlich umgestoßen und in Teile zerlegt. Eine Motorhaube wird von schwarz gekleideten Personen mit Sonnenbrillen abgerissen. Eine von ihnen die Künstlerin Selma Selman, die anderen sind ihre Familienangehörigen. Mit Hammer, Schraubendreher und Axt wird das Fahrzeug ausgeschlachtet und zerstört. Die Besuchenden nehmen in der Ausstellung „Unruly Kinships“ in der Temporary Gallery in Köln auf den Überbleibseln des derangierten Autos Platz. Sie werden als Sitzgelegenheiten im abgedunkelten Raum vor der Projektionsfläche bereitgestellt.

Hintergrund der Videoarbeit ist die fortdauernde ökonomische Krise in Bosnien-Herzogowina. Insbesondere für Roma erschwert sie, ein adäquates Einkommen zu generieren. Die tatsächliche Lohnarbeit der Familie, sprich der Verkauf von Metall und Motoren in Recyclingcentern, wird im Video zur Kunst recycelt und als Performance wiederum zur Arbeit.

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“Unruly Kinships”, Temporary Gallery, Exhibition View, Simon Vogel.

Vor Ort in der Temporary Gallery fand am Eröffnungswochenende eine ähnliche Performance statt. Öffentlich entnahm Selman gemeinsam mit Familienangehörigen Gold aus wertlosem Elektroschrott, genauer ausgedienten Motherboards. Von einem Goldschmied soll das Edelmetall schließlich zu Ohrringen für die Mutter der Künstlerin verarbeitet werden.

Materialien durchlaufen in Selmans in Videoform dokumentierter Performance sowie der Performance vor Ort Kreisläufe von Arbeit. Die Künstlerin deutet gegebene Strukturen um, bringt sie in neue Form. Die Familie arbeitet gemeinsam, der Lohn wird unter den Mitgliedern aufgeteilt und über Generationen hinweg weitergegeben. Es ist nicht ganz einfach, sich aus derartigen Zusammenhängen zu lösen, bei Bedarf aus dem Kreislauf von generationsübergreifender Arbeit auszubrechen und sich einer anderen Lohnarbeit, einem anderen Lebensmodell, zuzuwenden.

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“Unruly Kinships”, Temporary Gallery, Exhibition View, Simon Vogel.

„Unruly Kinships“ ist aus der Veranstaltungsreihe „Forms of Kinship“ hervorgegangen, die im vergangenen Jahr als eine Art öffentliche Forschungsphase fungierte. Die Ausstellung beleuchtet nun aus unterschiedlichen Blickwinkeln familiäre Gemeinschaften jenseits von Blut, Erbschaft und Eigentumsgefühl. Im Fokus steht die Kleinfamilie als ein historisch gewachsenes Modell, das zwei Generationen umfasst. Familie bedeutet hier Eltern mit Kindern, wobei Alleinerziehende innerhalb dieses Verständnisses bereits als unvollständige Familie gelten.

Die Ursprünge der Kleinfamilie lassen sich bis zur industriellen Revolution zurückverfolgen. Damals boten Arbeiterviertel nur begrenzt Wohnraum und die Löhne reichten gerade so zum Überleben des engsten Kreises. Ein Problem, das in ähnlicher Form bis heute besteht und aus dem sich ein enges, standardisiertes und hierarchisches Bild von der idealen Familie entwickelt hat, welches die Kuratorinnen der Ausstellung als kapitalistisch geprägt verstehen. Als kleinste Einheit des Staates ließe sich das Verständnis von Familie auf das Bild von Gesellschaft im Allgemeinen übertragen. Denn über die persönliche Sphäre hinaus wirke es auch in die berufliche und politische Ebene hinein.

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“Unruly Kinships”, Temporary Gallery, Exhibition View, Simon Vogel.

Bunte Wesen aus Papier von Lena Anouk Philipp bevölkern wie Geschenke einen Gabentisch. Filigrane Skulpturen aus Reis, Gold, Silber, Kupfer und gefundenen Materialien von Clementine Edwards bilden Landschaften im Miniaturformat. Der Blick richtet sich in der Ausstellung auf die kleinen Dinge, die gerne übersehenen Strukturen. Alternative Zusammenschlüsse und Lebensformen, die sonst im Verborgenen stattfinden, werden mittels der ausgestellten Werke ans Licht geholt.

Auf Regalen findet sich ein großformatiger, natürlichen Materialien nachempfundener Querschnitt, der an ein Formicarium erinnert. Im Innern der Arbeit von Jay Tan lassen sich kleine Figuren von Künstler*innen, Musiker*innen und Schriftsteller*innen bei unterschiedlichen Tätigkeiten beobachten. Sie tragen den gleichen Nachnamen wie der Künstler. Sagt der Nachname etwas über Verwandtschaft aus?

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“Unruly Kinships”, Temporary Gallery, Exhibition View, Simon Vogel.

Tan rückt neben der Namensverwandtschaft eine Art künstlerische Genealogie in den Fokus. Vielleicht ist die geistige Verwandtschaft manchmal von größerer Bedeutung als die familiäre, wenn Künstler*innen vergangener Zeiten als Inspirationsquelle dienen, sich mit ihnen mehr als mit den eigenen Verwandten identifizieren lässt.

Und wie sieht es mit der Verwandtschaft zu anderen Seinsformen aus? Ameisen leben ähnlich arbeitsteilig und strukturiert in gemeinschaftlich organisierten Verbünden zusammen wie Menschen. Trotzdem werden die kleinen Insekten gerne als Ungeziefer, niedere Lebewesen abgetan.

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“Unruly Kinships”, Temporary Gallery, Exhibition View, Simon Vogel.

Müssen wir Gesellschaft vielleicht gänzlich neu denken? Immer drängender treten aktuelle Probleme zutage, wenn laut Verfassungsschutz das Personenpotenzial gewaltorientierter Rechtsextremisten in den vergangenen Jahren zugenommen hat und es seit 2017 mit der AFD sogar eine öffentliche Plattform für rechte Propaganda im Bundestag gibt. Im Kampf um die Einhaltung des 1,5 Grad Ziels zur Bekämpfung des Klimawandels ist die politische Trendwende noch immer nicht gelungen. Stattdessen fokussiert man sich auf die umstrittenen Aktionen der “Letzten Generation”.

Dazu kommt, dass laut statistischem Bundesamt 2021 rund 13 Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet waren. Das entspricht einem Anteil von 15,8 Prozent der Bevölkerung. Die Armuts­gefährdungs­quote lag für Personen ab 65 Jahren mit 19,4 Prozent sogar deutlich über dem Durchschnittswert. All diese aktuellen Problemlagen befeuern gesellschaftliche Spaltung und lassen den Bedarf an Fürsorge in allen Lebensbereichen kontinuierlich ansteigen.

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“Unruly Kinships”, Temporary Gallery, Exhibition View, Simon Vogel.

In einer Videoarbeit von Rory Pilgrim finden sich Kimaaktivist*innen unabhängig von ihrer Herkunft und ihres persönlichen Hintergrunds zusammen, um für ein gemeinsames Ziel zu kämpfen. Sie stehen irgendwann gemeinsam der aufgehenden Sonne entgegen. Der Klimawandel könnte nach Pilgrim unter den gegebenen Umständen zum maßgeblichen Treiber werden, der zum Überdenken bestehender Lebensweisen zwingt.

Neue Modelle von Verwandtschaft müssen die Kleinfamilie dabei nicht ersetzen, sondern können als Ergänzung eine Bereicherung der bisherigen Strukturen darstellen. So wie geöffnete Liebesbeziehungen können sich auch geöffnete Familienstrukturen genau richtig anfühlen. Einfamilienhäuser sind im Vergleich zu größeren Wohngemeinschaften beispielsweise viel energieintensiver und führen zu mehr Flächenversiegelung.

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“Unruly Kinships”, Temporary Gallery, Exhibition View, Simon Vogel.

Vielleicht ergänzt eine alleinstehende Nachbarin den Familienverbund, vielleicht ist intergenerationelle Interaktion bei der Konzeption von Wohn- und Arbeitsräumen bereits mitgedacht. Mehr Gemeinschaftsräume in Wohnvierteln sowie Co-Working-Spaces könnten Abhilfe schaffen und als Ergänzung zu mehr Akzeptanz von reduzierter Wohnfläche führen. Infolge der Pandemie ist der Bedarf an mehr Platz für Kooperation und Gemeinschaft erst so richtig augenfällig geworden. Ein Neudenken von zwischenmenschlicher Beziehung würde somit letztlich auch die Integration veränderter Bedürfnisse im Hinblick auf Infrastruktur erfordern.

Angesichts moderner Probleme wird eine Hinwendung zu offenen Systemen, ausgedehnten Strukturen, sozialen Gruppen, zu einer realen Option. Langfristig führt die Reaktion auf all die aktuellen Problemlagen weg von einem linearen, exkludierenden Verständnis von Familie und hin zu einem permeablen Beziehungsgeflecht, welches Menschen auf vielfältige Weise verknüpft und beweglicher daherkommt. Aufgaben der Fürsorge ließen sich so als Verantwortlichkeiten unter den Gruppenmitgliedern viel unkomplizierter aufteilen.

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“Unruly Kinships”, Temporary Gallery, Exhibition View, Simon Vogel.

Vereinzelt finden sich mittlerweile Modelle zum Beispiel der räumlichen Nähe von Altenheimen und Kitas, welche beide Seiten gleichermaßen profitieren lassen und die Eltern möglicherweise sogar noch entlasten. Vielleicht ist es an der Zeit, den Vorschlaghammer herauszuholen und bestehende Strukturen zu zerstören, aufs Wesentliche zu reduzieren, gänzlich umzuschmelzen und in neue Form zu bringen.

WANN: Die Ausstellung “Unruly Kinships” läuft bis zum 30. April.
WO: Temporary Gallery, Zentrum für zeitgenössische Kunst e.V., Mauritiuswall 35, 50676 Köln.

In freundlicher Zusammenarbeit mit der Temporary Gallery.

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