Rettet Technoschamanismus die Welt?
Zukunftsvisionen im Hartware Medienkunstverein

19. Januar 2022 • Text von

In einer durch Kolonialismus, Kapitalismus und Umweltzerstörung verwundeten Welt suchen zwölf Kunstschaffende nach Heilung. Im Dortmunder Hartware Medienkunstverein wird der Mensch wieder ins Gleichgewicht mit sich selbst gebracht, schließen sich Denken und Fühlen nicht länger aus. Technologie und Schamanismus, geht das zusammen?

Transformella (aLifveForm fed and cared for by JP Raether), “Transformella malor ikeae shrine (die Schützlinginnen, die Schützende)”, 2021. In der Ausstellung “Technoschamanismus”, HMKV. Foto: Jannis Wiebusch.

Das vergangene Jubiläumsjahr Beuys 2021 ist noch präsent und auch wenn es den Ausgangspunkt der Ausstellung im Hartware Medienkunstverein im Dortmunder U bildete, sind die esoterischen Praktiken des Künstlers hier nur eine von zwölf weiteren Positionen. Die ausgestellten Kunstschaffenden sehen sich nicht in direkter Nachfolge des Jahrhundertkünstlers, verstehen sich nicht als Abkömmlinge eines schamanistischen Erbes, sondern als nach kultureller Veränderung Suchende. In vier Gruppen aufgeteilt, widmet sich “Technoschamanismus” aktuell relevanten Themen wie Ökologie, künstliche Intelligenz, nicht-menschliche Akteure, Alchemie und Kosmologie.

Transformella (aLifveForm fed and cared for by JP Raether), “Transformella malor ikeae shrine (die Schützlinginnen, die Schützende)”, 2021. In der Ausstellung “Technoschamanismus”, HMKV. Foto: Jannis Wiebusch.

Blickfang der Ausstellung ist ein Schrein wie ein Kokon inmitten des Raumgefüges. Der Eintritt in dessen Bannkreis gleicht dem Betreten einer Höhle mit steilen Felswänden, durch die von oben Licht hereinfällt und in deren Mitte Seile wie Zöpfe herunterragen, an denen es sich fast bis in den Himmel empor klettern lässt. Das aus Relikten vergangener Performances gebaute Nest ist Hort des fiktiven Charakters “Transformella” des Künstlers JP Raether. Als eine der drei sogenannten “Self-Sisters”, die globalisierte kapitalistische Waren- und Produktionsströme erforschen, interessiert sich “Transformella” insbesondere für die Belange menschlicher Reproduktion. Welche Arten von Zusammenleben gibt es?

knowbotiq, “Swiss Psychotropic Gold, the Molecular Refinery”, 2017/2018/2021. In der Ausstellung “Technoschamanismus”, HMKV. Foto: Jannis Wiebusch.

Das fantastische Wesen unternimmt Expeditionsreisen zu Warenhäusern von Ikea, in denen sich das Ideal der klassischen Kernfamilie versatzstückartig zusammenbauen lässt. “Transformella” erzählt hingegen eine alternative Erzählung zu der vom Konzern vorgegebenen, so dass das umgebende Setting im Sinne eines Zusammenlebens in Kleingemeinschaften plötzlich ganz anders lesbar wird. In einem alchemistischen Prozess nehmen die Körper neuer sogenannter “Transformella cinis”, Abkömmlinge der “Transformellae”, im physisch begreifbaren Nest Form an, werden einzelne Organe in Keramikcontainern herangezüchtet und bei Zuhilfenahme von AR Devices leuchtende Lebenslinien für die Besucher*innen sichtbar gemacht. Und nicht nur das! Auch Logos von Firmen, die sich mit Kohlenstoff als Kernelement des Lebens beschäftigen, wie Hersteller von In-vitro-Fleisch, schweben durch die Brille betrachtet über den Containern. Nie lebendig gewesene Materie, wie der fiktive Körper “Transformellas” selbst.

Mariechen Danz, “Common Carrier Case (Präparat/tentacle/speech bubble/bw)”, 2019. In der Ausstellung “Technoschamanismus”, HMKV. Foto: Jannis Wiebusch.

Auf der anderen Seite trägt ein im Raum schwebendes “modular mapping system”, gleichsam einer überdimensionalen Computerplatine, Welt-, Stern- und Wetterkarten zur Schau, verdeutlicht die kosmologischen Überlegungen von Mariechen Danz. Welches Wissen liegt verschüttet und wie können wir dieses Wissen wieder zurück auf den Körper übertragen? In einer aus den Fugen geratenen Welt plädiert Mariechen Danz für eine Rückbesinnung auf die Natur, ein in Einklang bringen des eigenen Körpers mit seiner Umgebung. Die Aussparungen im korrodierten Stahl und Aluminium werfen Schatten auf die dahinterliegende Fläche, bilden eine Sternenkarte und sind doch als eingestanzte Öffnungen vielmehr Anschlüsse für technisches Gerät.

Tabita Rezaire, “Mamelles Ancestrales”, 2019. In der Ausstellung “Technoschamanismus”, HMKV. Foto: Jannis Wiebusch.

Etwas weiter zeigt ein im Dunkel liegender Raum als Teil der Videoinstallation “Mamelles Ancestrales” ruhende archaische Felsen, die von einem warmen Licht angestrahlt werden. Es ist ein Steinkreis längst vergangener Zeit. Ein solcher, von dem es in Westafrika entlang des Gambia-Flusses noch mehr als 1.000 gibt. Tabita Rezaire führte Interviews über die rätselhafte Funktion der Steine mit Hüter*innen und Wissenschaftler*innen, deren Gesichter auf einem Bildschirm ähnlich einer Himmelscheibe im Zentrum der Steine aufleuchten. Bildeten die Steinkreise Sternenkonstellationen ab? Wiesen sie auf die Jahreszeiten hin, denen man zur Zeit der Entstehung noch eine viel größere Bedeutung zumaß? Ausgangspunkt der Recherche sind privatwirtschaftliche Pläne einer Kolonisierung des Weltraums, des Abbaus von Rohstoffen im All. Rezaire macht sich stark für eine alternative Sicht auf den Weltraum, für eine nicht wirtschaftlich, sondern wissenschaftlich, mystisch und kosmologisch geprägte Betrachtung.

Morehshin Allahyari, “She Who Sees the Unknown: Kabous, The Right Witness and The Left Witness”, 2019. In der Ausstellung “Technoschamanismus”, HMKV. Foto: Jannis Wiebusch.

“Technoschamanismus” zeigt Kunst resultierend aus einer tiefen Desillusionierung über die Entwicklungen der westlichen Welt. Ähnlich Beuys, der beispielsweise dem Hirsch besondere schamanistische Fähigkeiten zusprach, da dieser mit seinem Geweih als eine Art Antenne in die Welt hineinfühlen könne, strecken die zeitgenössischen Künstler*innen ihre Fühler aus, werben für mehr Sensibilität. Die Lösung sieht der Technoschamanismus in einer Synthese scheinbar gegensätzlicher Begriffspaare und Denkweisen. Globale Krankheitssymptome wie Kolonialismus, Ausbeutung und Umweltzerstörung ließen sich im rituellen Gemeinschaftserleben mithilfe von Technik heilen. Die Ausstellung markiert einen Kipppunkt in der Gesellschaft, in der der Einzelne nicht mehr wichtiger als die Gemeinschaft ist, Selbstoptimierung und Egotrips hinter einer gesamtgesellschaftlich empfundenen Zusammengehörigkeit zunehmend zurückstehen. Besonders sichtbar werden die beiden Fronten dieser Tage, wenn im Angesicht der anhaltenden Pandemie, auch die Grabenkämpfe fortdauern, die gesellschaftliche Spaltung immer größer wird.

WANN: Die Ausstellung “Technoschamanismus” läuft noch bis Sonntag, den 6. März.
WO: Hartware Medienkunstverein, im Dortmunder U, Ebene 3, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund.