Im Dazwischen
Sung Tieu im n.b.k.

10. April 2023 • Text von

Zwischen starren Linien und akkurat eingeteilten Flächen liegt eine beklemmende Ungewissheit. Indem sie bürokratischen Machtstrukturen physischen Raum zuweist, nähert sich die deutsch-vietnamesische Künstlerin Sung Tieu der Geschichte der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen in der DDR an. Im Mittelpunkt ihrer Soloausstellung “No Jobs, No Country” im n.b.k steht die Plattenbausiedlung “Gehrenseestraße”, in der ab den 1980er Jahren vor allem Vietnames*innen wohnten – unter ihnen auch die Künstlerin selbst.

Sung Tieu, Window Trace (n.b.k.), 2023; Block G (Gehrenseestrasse, Berlin), 2023; Form (for Residence Permit), 2023, Ausstellungsansicht Sung Tieu. No Jobs, No Country, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), 2023. Foto: © n.b.k. / Jens Ziehe

Im Jahr 1980 schlossen die DDR und die Sozialistische Republik Vietnam ein Anwerbeabkommen ab, welches rund 60.000 Vietnames*innen ermöglichte, in den zahlreichen VEBs in Ost-Berlin und Umland zu arbeiten. Von willkommener Gastfreundschaft konnte man im Angesicht der strengen Reglementierungen, die sowohl die Arbeitsbedingungen, als auch die Lebensumstände betrafen, jedoch nicht sprechen. Viele vietnamesische Vertragsarbeiter*innen fanden zwar eine Unterkunft, wie beispielsweise in dem ehemaligen Wohnhauskomplex in der Gehrenseestraße, einer Plattenbausiedlung von neun baugleichen Hochhäusern, allerdings wohnten sie dort unter fragwürdigen Umständen auf nur 5 Quadratmetern Wohnfläche pro Person und unter ständiger Aufsicht. Sung Tieu lebte selbst von 1994 bis 1997 in einem der Gebäude. Ihre Soloausstellung im n.b.k. widmet sie nun der Plattenbausiedlung mit den neun baugleichen Gebäudeblocks.

Sung Tieu, Form (for Residence Permit), 2023; Block G (Gehrenseestrasse, Berlin), 2023, Ausstellungsansicht Sung Tieu. No Jobs, No Country, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), 2023. Foto: © n.b.k. / Jens Ziehe

In der Mitte des Ausstellungsraums steht eine schwarze monolithische Stahlskulptur, die den Grundriss eines der Wohnhäuser in der Gehrenseestraße nachzeichnet. Von einem langen Flur gehen einzelne Räume ab, die von Tieu mit umliegender Erde aufgefüllt wurden. Kante, Schnitt – Fläche, Schnitt – Fläche, Schnitt – Linie, Schnitt. Es scheint, als ob in Tieus Skulptur jede Form des Freiraums streng reglementiert ist und nur unter Aufsicht stattfinden kann.

Selbst die natürliche Beleuchtung des Raumes wird – abgesehen von den Oberlichtern – nur kontrolliert in diesen gelassen, durch schmale Spalten, die die Umrisse der dahinterliegenden Fenster nachzeichnen. Verstärkt wird dieser Effekt der reglementierten Strenge durch den starken Kontrast, der zwischen dem leuchtend weißen Teppichboden und der monochromen Skulptur besteht.

Sung Tieu, Form (for Residence Permit), 2023, Ausstellungsansicht Sung Tieu. No Jobs, No Country, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), 2023. Foto: © n.b.k. / Jens Ziehe

Auch die vierteilige Serie “Form (for Residence Permit)” suggeriert eine strenge, vorgegebene Ordnung. Die A4-großen Gipsobjekte sind an der gegenüberliegenden Wand eingelassen und Dokumenten zur Beantragung von Aufenthaltsgenehmigung nachempfunden. Die geometrischen Zeichnungen bilden dabei die von den Antragsstellenden zu füllenden Leerstellen ab. Dabei wirkt der leitende Rahmen, der hier geschaffen wird, nicht hilfreich, sondern vielmehr wie eine bedrohliche Fehlerquelle. Während die Formulare suggerieren, dass es hier mit “rechten Dingen” zugeht, dass sich Leben, Konstellationen, Schicksale in vorgefertigte Leerstellen eintragen lassen müssen, tragen sie gleichermaßen zur Konstruktion des “Anderen” bei – das sich einer bürokratischen Übermacht entgegen sieht.

Sung Tieu, Untitled (Flower Dress), 2023; Untitled (Birthday), 2023, Ausstellungsansicht Sung Tieu. No Jobs, No Country, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), 2023. Foto: © n.b.k. / Jens Ziehe

Zwischen all der Ungewissheit befinden sich aber auch Geschichten der Gemeinschaft und des Widerstands, die die Erzählung über die Gebäude in der Gehrenseestraße mit Stimmen von Betroffenen füllen. So sind an der Wand vor dem Ausstellungsraum einige kleinformatige Fotografien aus dem persönlichen Besitz der Künstlerin angebracht. Sie zeigen festlich gekleidete Kinder, die auf dem Boden um einen liebevoll gedeckten Geburtstagstisch sitzen. Eines der Fotos zeigt Tieu als junges Mädchen, wie sie vor einem der Hauseingänge steht.

Korrespondierend zu diesem autobiographischen Teil der Ausstellung liegt ein fiktiver Leser*innenbrief aus, der von der Künstlerin selbst als Antwort auf den titelgebenden Bericht “The Vietnamese in Germany: No Jobs, No Country” aus einem Artikel der New York Times im Jahr 1995 über den Wohnhauskomplex verfasst wurde. Dort kritisiert sie die herablassende Wortwahl eines namentlich nicht genannten Autors, der die Plattenbausiedlung als “Ghetto” bezeichnete, und die Tatsache, dass er sich in seinem Bericht nicht mit der Community vor Ort auseinandergesetzt hat. Anschließend fängt sie an, in lebhafter Art von ihrem Alltag dort zu erzählen und das vorgefertigte Narrativ von Menschen, die Opfer ihrer Umstände sind, zu dekonstruieren.

Sung Tieu, Block G (Gehrenseestrasse, Berlin), 2023, Ausstellungsansicht Sung Tieu. No Jobs, No Country, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), 2023. Foto: © n.b.k. / Jens Ziehe

Jedes einzelne Werk in Tieus Soloausstellung scheint den Raum in kontrollierbare Sektionen aufzuteilen zu wollen, um ihn sich dadurch zu eigen zu machen. Im Zentrum des neuen Werkkomplex steht sowohl das Schicksal einzelner Individuen, als auch die kollektive Geschichte, die durch staatliche Regelungen und bürokratische Machtausübung mitgeformt wurde. Indem sie Raum und Fläche aufteilt und räumliche Beziehungen einander gegenüberstellt, nähert sie sich der Zwischenräume an, in denen Handlungsspielraum besteht. Mittels autobiographischer, intimer Einblicke bricht Tieu das Narrativ, das vielfach geformt wurde.

Als kurz nach der Wende die meisten der “Volkseigenen Betriebe” geschlossen wurden, sahen sich viele vietnamesische Gastarbeiter*innen der Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Dennoch blieben nach der Wiedervereinigung rund 16.000 Vietnames*innen im Land und holten ihre Familienangehörigen nach. In den Plattenbauten der Gehrenseestraße fanden dann kurzfristig Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber*innen Unterkunft. Seit 2003 stehen die neun Gebäudeblocks 2003 leer. Nun soll ein Investor den Abriss geplant haben und unter dem Namen “Quartier Gehrenseestraße” ein neues Wohnquartier errichten. Tieus Soloausstellung ist den vielen unsichtbaren Schicksalen der Vietnames*innen gewidmet, die zwischen 1982 und 1989 in der Siedlung lebten und macht ein Stück der Geschichte der vietnamesischen Diaspora in Deutschland sichtbar.

WANN: Die Ausstellung “No Jobs, No Country” läuft noch bis einschließlich Sonntag, den 7. Mai.
WO: Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestrasse 128/129, 10115 Berlin.

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