Instabile Welten Stefan Reiterer im Museum gegenstandsfreier Kunst
2. Juli 2025 • Text von Katrin Krumm
In “Inflection Point” im Museum gegenstandsfreier Kunst überträgt Stefan Reiterer digitale Kartenbilder und Satellitenaufnahmen in Malerei und Skulptur. Dabei kreiert er instabile Zwischenwelten, die in der Ausstellung aufeinandertreffen: jedes Werk ein eigenes System, das sich nach eigenen Regeln krümmt und entfaltet. Eingefasst werden seine Bildräume durch eine raumgreifende Bodenmalerei, die wie ein visueller Untergrund für den möglichen Kollaps einer vertrauten Ordnung fungiert.

Ein Blick aus der Vogelperspektive: Die Form eines Gebäudekomplexes ist zu erkennen, welcher an einer angrenzenden Waldfläche in dunklem Grün steht. Die Perspektive ist verzerrt, der Wald entgleitet dem Blick, zieht sich über die geschwungene Holzoberfläche. Was einst zur Orientierung erschaffen wurde, wird in “Template X” verfremdet und verwandelt sich zur gemalten Spur einer digitalen Momentaufnahme und zur flüchtigen Realität, die sich im Wandel befindet.
Was, wenn sich Strukturen plötzlich auflösen und in sich zusammenfallen? Die Ausstellung “Inflection Point” von Stefan Reiterer im Museum gegenstandsfreier Kunst in Otterndorf beschreibt einen Wendepunkt: in der Mathematik beispielsweise den Punkt, wo sich die Krümmung von konkav in konvex verschiebt, in Wirtschaft und Technologie der Punkt, an dem sich Dinge deutlich verändern. Im Kontext von Reiterers Werk kann das sowohl auf die lang geglaubte Sonderstellung des Menschen im Kosmos als Mittelpunkt der Welt oder die sich schnell verändernden Möglichkeiten der digitalen Visualisierungstechniken zu treffen – sowie auf die sich in Transformation befindenden Welten innerhalb seiner Malereien.

Reiterers Arbeiten zeigen von dem Künstler verfremdete unterschiedliche Oberflächen der Erde, visualisiert aus Satellitenansichten, Nachtflügen und kosmischen Perspektiven. Mittels digitaler Weltkarten aus Google Earth oder Aufnahmen aus der ISS sammelt er zunächst Landschaftsbilder und Satellitenbilder, um sie mit einem Bildbearbeitungsprogramm verschiedenen Verfremdungsprozessen zu unterziehen. Anschließend überträgt er diese neuen Kompositionen in das Medium der Malerei sowie skulpturalen Körpern.
Die Verknüpfung von Landschaftsaufnahmen mit Weltraumbildern eröffnet eine vielschichtige Betrachtung der Welt als dynamisches, sich permanent veränderndes Gefüge. Konfiguration und Transformation sind gleichzeitig Motive seiner Arbeiten, sowie zentrale Mittel seiner Praxis. Den Auftakt zur Ausstellung bildet daher eine Videoinstallation im Loop, die den Arbeitsprozess des Künstlers sichtbar macht. Das gesammelte digitalen Kartenmaterial transformiert er über Bildbearbeitungssoftware in digitale Templates. Im Anschluss wird es verformt, verzerrt, strukturell aufgelöst und anschließend analog auf Holz, Aluminium oder Leinwand übertragen.

Reiterers Malereien auf Leinwand oder Aluminium entziehen sich dabei immer wieder der Massivität, die ihnen ihre visuelle Wirkung zunächst zuschreibt. Die glatten Oberflächen täuschen räumliche Tiefe und Plastizität vor: eine Illusion, die sich bei näherer Betrachtung immer wieder verschiebt. Seine Bildwelten bewegen sich zwischen kartografischer Referenz, abstrakter Topografie und illusionistischer Räumlichkeit. In der Serie “Image” sind noch Überreste des ursprünglichen Kartenmaterials erkennbar, etwa pastose Punkte oder Farbverläufe, die sich aus den Screenshots ableiten. Sie werden im geschichteten Farbauftrag selbst wieder zu einer analogen Topographie.
In „Texture Mapping“, einer raumgreifende Bodenarbeit, die sich über die zwei Etagen des Museums erstreckt, durchziehen gelbe und blaue Pinselstriche den Boden, verbinden dabei architektonische Übergänge und erzeugen eine instabile visuelle Struktur, die die Arbeiten des Künstlers in eine gemeinsame, universelle Logik fasst. Wie ein Hintergrundrauschen für den möglichen Zusammenbruch konstruierter Ordnungen bildet diese Arbeit die Projektionsfläche, auf der sich verschiedene Realitäten überlagern. Mit dem Titel greift Reiterer ein Verfahren aus der Computergrafik auf, bei dem zweidimensionale Bildflächen auf dreidimensionale Objekte projiziert werden: ein Prinzip, welches er auf seine begehbare malerische Umgebung überträgt.

Viele seiner skulpturalen Arbeiten, wie auch die Arbeit “formant 1” im Erdgeschoss des Museums wirken zunächst wie computergenerierte Renderings. Tatsächlich sind sie mit Hilfe von 3D-Modellierung entwickelt, aus Holzhybridmaterialien gefräst oder mittels Holzfaser-3D-Drucktechniken erstellt und anschließend bemalt. „formant 1“ basiert auf Bildmaterial aus dem Jahr 2018 und erscheint in der neuen Fassung von 2025 als Verweis auf die Wiederverwertbarkeit digitaler Templates und die zyklische Nutzung von Bildmaterial. Die Arbeit, ursprünglich als Malerei entstanden, wurde als dreidimensionale Malerei in eine Skulptur übertragen. Auch die Rückseite der ursprünglichen Malerei ist sichtbar, auf der Spuren wie Pfeile und die Jahresangabe erkennbar sind.
Reiterer verbindet topografische mit kosmischen Perspektiven und schafft so eine komplexe Bildwelt, in der verschiedene Realitätsebenen überlagert sind. Die einzelnen Werke lassen sich als autonome Systeme verstehen, als jeweils eigene Bildräume mit individuellen Logiken. Gleichzeitig bleiben sie durch menschliche Perspektive, digitale Bearbeitung und analoge Ausführung kontrolliert und strukturiert – wenn auch nur temporär. Unter der Oberfläche seiner Arbeiten entsteht ein Moment der Instabilität, in dem vertraute Ordnungssysteme hinterfragt werden.
WANN: Die Ausstellung “Inflection Point” läuft bis Sonntag, den 10. August.
WO: Museum gegenstandsfreier Kunst, Marktstraße 10, 21762 Otterndorf.