Ich sehe was, was du nicht siehst "Stars Down To Earth" in der Galerie Barbara Weiss
15. Dezember 2021 • Text von Carolin Kralapp
Die Gruppenausstellung “Stars Down To Earth” in der Galerie Barbara Weiss vereint 18 künstlerische Positionen zu Astrologie und alternativen Glaubenssystemen. Die Arbeiten spüren auf direkter oder subtiler Weise der Frage nach, wie der Einfluss solch pseudowissenschaftlicher Disziplinen auf unsere gesellschaftliche Identifikation und Lebensrealität abfärbt. Einen Ohrwurm von “Kingston Town” gibt es obendrauf!
Na, wie stehen wohl heute die Sterne? Schon das Horoskop gecheckt? Mit der Astrologie ist es so eine Sache. Für die einen ist sie Hokuspokus, totaler Humbug, für die anderen ein Anker, etwas Sinnstiftendes. Es handelt sich bei der Astrologie um eine Pseudowissenschaft, die versucht, Zusammenhänge zwischen astronomischen Ereignissen und weltlichen Geschehnissen herzustellen beziehungsweise sie erklärbar zu machen. Sie bietet Raum für Vielerlei: Annahmen, Widersprüche, Interpretationen, Prophezeiungen und mehr oder weniger glückliche Zufälle. Auch wenn es jüngst immer mal wieder wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Thema gab, sind astrologische Ereignisse nicht anhand statistischer Werte eindeutig belegbar, weshalb die Astrologie auch nicht zu den wissenschaftlichen Disziplinen zählt. Trotzdem löst sie weltweit eine Faszination aus und vereint eine große Anhänger*innenschaft hinter sich. Die Galerie Barbara Weiss versammelt nun in der von Sung Tieu und Nicholas Tammens kuratierten Ausstellung unterschiedliche künstlerische Positionen in einer einzigartigen Ausstellungsarchitektur, die die astronomische Skizze der Himmelssituation vom Eröffnungstag, Sonntag, dem 31. Oktober 2021, um 18 Uhr darstellen soll.
Die britische Künstlerin Camilla Wills, die mit zwei Arbeiten in der Ausstellung “Stars Down to Earth” vertreten ist, ist künstlerisch stark von den 1990er Jahren in Großbritannien und den “Young British Artists” beeinflusst, deren wohl populärster Vertreter Damien Hirst ist. Charakteristisch sind die Verwendung von Wegwerfmaterialien sowie eine trotzige, aber kommerzielle künstlerische Haltung. Camilla Wills stiftet mit ihren Arbeiten gern Verwirrung und serviert uns Betrachtenden Unschlüssigkeiten. Eine Vorgehensweise, die dem Konzept der Astrologie und der scheinbaren Erklärbarkeit von Zuständen bewusst entgegengestellt werden kann. So sehr wir uns vielleicht wünschen würden, jede Lebenslage plausibel erklären zu können, um zu einer inneren Ruhe zu finden, müssen wir wohl doch die Tatsache akzeptieren, manchmal ratlos vor einem großen Haufen von Verwirrungen und komplexen Zusammenhängen auszuharren. Und dabei den Versuch wagen, wackelige Zustände auszuhalten. Daran erinnert uns die Künstlerin in ihrer Arbeit.
In seiner Videoarbeit “Telemistica” von 1999 unternimmt der Künstler Christian Jankowski den Selbstversuch, bei fünf Wahrsager*innen im italienischen Fernsehen anzurufen und Fragen zu seiner künstlerischen Zukunft und damals neuesten Arbeit zu stellen, die noch im Entstehungsprozess war. Für seinen Beitrag zur 48. Biennale in Venedig lernte der Künstler italienisch und nahm seine größtenteils positiven Prophezeiungen direkt vom Fernseher auf. Er stellt Fragen, die viele Künstler*innen in ihrem Schaffen beschäftigen: Ist die Idee gut genug? Wird die Kunst erfolgreich sein? Wird das Werk der Öffentlichkeit gefallen? Die Arbeit war tatsächlich ein Erfolg und hat zum internationalen Durchbruch des Künstlers beigetragen. Ob das nun an den hellseherischen Kräften der TV-Wahrsager*innen lag oder doch eher an den Fähigkeiten des Künstlers, dürfen wir selbst entscheiden – mit “Kingston Town” von UB40 im Ohr.
Die Fotografien der US-amerikanischen Künstlerin Julie Becker zeigen eng ausgeschnittene Innenräume mit motivreichen Tapeten und knalligen Teppichböden. Das Phänomen von Lebensräumen kombiniert mit einer kindlichen Fantasie prägte das Werk der Künstlerin von Beginn an. Bereits als Jugendliche begann sie ihre fotografische Serie “Interior Corners” in Los Angeles. Obwohl die Fotografien leere Ecken zeigen, scheinbar frei von jeglichen äußeren Einflüssen, so schwingt mit ihnen jedoch gleichzeitig etwas Unheimliches, etwas Unerklärliches, mit, das einen verwundert zurücklässt. Ein komisches Gefühl macht sich breit, an dem auch die bunten Sternchen an der Wand nichts ändern können. In ihren späteren Jahren bis zu ihrem Tod mit nur 43 Jahren widmete sich Julie Becker überwiegend der Innerlichkeit und beunruhigenden Zweideutigkeit von privaten und öffentlichen Räumen. Die Atmosphäre von Räumlichkeit ist ein zentraler Aspekt in ihrer Arbeit.
Die Astrologie erschafft eine Art ideologische Architektur und hat die nicht zu unterschätzende Kraft, die Wahrnehmung unseres eigenen Selbst so zu verzerren, dass sie uns Halt und Trost spenden soll – in einer Realität, die sonst zu bedrohlich und unsicher erscheint. Sie kann für das Individuum eine “Wahrheit” kreieren, die den Umgang mit der Realität in all seinen Verwirrungen und Schwierigkeiten scheinbar erleichtert und erklärt. Die künstlerischen Arbeiten in der Ausstellung nähern sich diesem gesellschaftlichen Phänomen auf unterschiedliche Art und Weise und in Form diverser Medien an – manche sehr direkt und andere eher unterschwellig. Uns allen steht frei, darüber zu entscheiden, was uns Kraft und Sicherheit spendet und was nicht. Dennoch bleibt die Astrologie eine Pseudowissenschaft, die uns hier und da auch daran erinnern kann, das Glück und die eigene Zukunft nicht von äußeren, vermeintlich höheren, Kräften auslegen zu lassen und abhängig zu machen. Vielleicht ist es nicht die Suche nach Antworten, die uns Beständigkeit und Halt schenken kann, sondern eher die Fähigkeit, den Umgang mit vermeintlichen Unsicherheiten zu lernen und daraus einen Glauben entstehen zu lassen.
WANN: Die Gruppenausstellung ist noch bis Mittwoch, den 22. Dezember, zu sehen.
WO: Galerie Barbara Weiss, Kohlfurter Strasse 41/43, 10999 Berlin.