Im Land der universellen Träume
Shirin Neshat in der Pinakothek der Moderne

22. Dezember 2021 • Text von

Traum und Wirklichkeit, Poesie und Politik, persische und westliche Bildkonzepte. Die Verbindung von vermeintlichen Widersprüchen ist in der Kunst der Fotografin und Videokünstlerin Shirin Neshat Programm. Die Einzelausstellung „Living in One Land, Dreaming in Another“ in der Pinakothek der Moderne präsentiert unter anderem ihr jüngstes Gesamtkunstwerk „Land of Dreams“. In dieser medienübergreifenden Arbeit setzt sich die amerikanisch-iranische Künstlerin erstmalig mit ihrer Exilheimat Amerika auseinander.

Shirin Neshat, Video still aus der Serie Land of Dreams, Zweikanal-Video, HD video monochrom, Dauer: 23 Minuten, 58 Sekunden, © Shirin Neshat Courtesy the artist, Gladstone Gallery, New York and Brussels, and Goodman Gallery, London and Capetown

Werden unsere Träume davon beeinflusst, wo und wie wir leben? In einem Zweikanal-Video fährt die junge Agentin Simin durch die Wüstenlandschaft von New Mexico, um im Auftrag der iranischen Regierung genau dieser Frage auf den Grund zu gehen. Getarnt als Kunststudentin klingelt sie an kleinstädtischen Häusern und fragt die Bewohner*innen, ob sie für ein Kunstprojekt Porträtaufnahmen von ihnen machen dürfe. Beim Fotografieren erkundigt sie sich ganz beiläufig, von was ihre Modelle als letztes geträumt haben, und sammelt diese Erzählungen in ihrem Notizbuch. Zeitgleich sieht man im anderen Teil der Videoinstallation, wie die Agentin in einer iranischen Kolonie in den Tiefen eines Berges die Ergebnisse ihrer Befragungen zusammen mit den Bildern auswertet und katalogisiert. Im Zuge ihrer Recherchen wird der iranischen Agentin bewusst, dass die Träume der Bewohner*innen von New Mexico kaum von ihren eigenen abweichen. Die Sorgen und Wünsche, die sich in den unterbewussten Traumerfahrungen der Menschen offenbaren, sind universell. 

Die Zweikanal-Videoinstallation ist Teil der Arbeit „Land of Dreams“ (2019), in der die Künstlerin erstmalig ihre drei Ausdrucksformen Video, Fotografie und Kalligrafie verbindet. Bevor die Besucher*innen in den dunklen Videoraum gelangen, treffen sie zunächst auf eine riesige Installation aus 111 Porträtfotografien in Schwarz-Weiss und in verschiedenen Größen, die den weiten Ausstellungssaal bis an die Decke einnehmen. Zu sehen sind unterschiedlichste Menschen, die sich in der Petersburger Hängung zu einem Gesellschaftsporträt formieren: ein Junge mit weißem Cowboyhut, ein Mädchen in geblümten Spitzenkleid oder ein Mann mit gänzlich tätowiertem Oberkörper.

Shirin Neshat, Possessed, 2001, Video Still, Ein-Kanal-Video, 16mm und 35mm Schwarz-Weiß -Film auf Video übertragen, Dauer: 10 Minuten, 28 Sekunden Edition 4/6 (6+1 AP) 2001 erworben für die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen © Shirin Neshat Courtesy the artist and Gladstone Gallery

Während man versucht, sich einen Überblick über die analoge Flut an Bildern zu verschaffen, wird man irgendwie das Gefühl nicht los, selbst von den Menschen auf den Porträts beobachtet zu werden, so als würde ein nonverbaler Austausch vor sich gehen. Die minimalistische Inszenierung der einzelnen Porträts lenkt den Fokus auf feine Details und ermöglicht Freiraum für eigene Interpretationen. In der neutralen Mimik und der zurückhaltenden Körpersprache beginnt man Verunsicherung, Stolz oder Schüchternheit zu erkennen.

Geboren 1957 in Qazvin im Iran verließ Neshat in jungen Jahren ihre Heimat, um Kunst an der Universität in Berkeley, Kalifornien zu studieren. Kurz nach ihrer Abreise kam es 1979 im Zuge der Iranischen Revolution zum gewaltsamen Regimewechsel. Aufgrund dieser politischen Umbrüche konnte Neshat seitdem nur zweimal in den Iran zu ihrer Familie zurückkehren. Die daraus resultierenden Gefühle von Entwurzelung und Fremdheit bildeten den Ausgangspunkt ihrer autobiographisch geprägten Kunst. Neshat fokussierte sich bisher vorwiegend auf die islamische Welt und auf die dortigen Lebensrealitäten. In der eingangs beschriebenen Arbeit „Land of Dreams“ schlägt sie erstmals einen Richtungswechsel ein. Der Titel ist unverkennbar eine Anspielung auf Amerika, dem Land der „Dream Big“ Mentalität und der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten.

Neben dem medienübergreifenden Gesamtkunstwerk versammelt die Einzelausstellung frühere Arbeiten, durch die ein weitgreifender Einblick in Neshats Schaffen ermöglicht wird. Ihre in Schwarz-Weiß gehaltenen Fotografien und Videoarbeiten kreisen um die vielschichtigen Definitionen von Heimat und Identität, um das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und religiöser Fremdbestimmung. In der Videoarbeit „Roja“ (2016) verarbeitet Neshat ein eigenes Traumerlebnis, in dem existenzielle Ängste vor dem Verlust ihrer Mutter und die Sehnsucht nach ihrer Heimat freigelegt werden.

Shirin Neshat, Roja, 2016, Video Still, Ein-Kanal-Video HD-Video einfarbig Dauer: 15 Minuten, 20 Sekunden © Shirin Neshat Courtesy the artist and Gladstone Gallery

In den seriellen Fotoarbeiten „The Book of Kings“ (2012) und „The Home of my Eyes“ (2015) treffen persische Kalligrafie und westliche Porträtkunst aufeinander. Darin überträgt Neshat zeitgenössische Lyrik und Motive traditioneller Mythologien der islamisch geprägten Kultur auf die Haut der Porträtierten, wodurch ein Moment von Zeitlosigkeit freigesetzt wird. Ohne Sprachkenntnisse oder Übersetzungshilfen haben die Besucher*innen keine Chance zu erfahren, was genau auf der Haut dieser Menschen geschrieben steht. Das daraus entstehende Gefühl, außenstehend zu bleiben, setzt die vielfach ausgezeichnete Künstlerin hier womöglich bewusst als Ausstellungskonzept ein. 

Egal, ob man sich morgens nach dem Aufwachen daran erinnert oder nicht – jeder Mensch träumt. Vor diesem elementaren, menschlichen Erlebnis zerfallen religiöse, politische und kulturelle Verschiedenheiten. Wie in einem traumähnlichen Zustand setzt Neshat in ihren Kunstwerken existenzielle Bedürfnisse und unterbewusste Ängste ungefiltert frei. Im Gespräch mit der Kuratorin Judith Csiki erzählt sie: „Für mich gleichen Kunst und Fiktion daher Träumen, in denen man in einem Zustand der totalen Abstraktion und Unglaublichkeit womöglich zu etwas überaus Tiefgründigem und Urmenschlichem vordringen kann“.

WANN: Die Ausstellung „Living in One Land, Dreaming in Another“ von Shirin Neshat läuft noch bis Sonntag, den 24. April 2022.
WO: Pinakothek der Moderne, Barer Straße 40, 80333 München.

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