Ophelia Optimus Prime Selma Selman bei ChertLüdde
12. September 2024 • Text von Lara Brörken
Selma Selman nennt sich selbst einen “Transformer”. Sie schreibt mit “Ophelia‘s Awakening” bei ChertLüdde ihre Geschichten und die von Hamlets Ophelia neu und fort. Sie entnimmt dem Geschehenen Fragmente, alte Autoteile, die den Bogen zurückspannen und Untergrund sind, auf dem die erstarkten Figuren wandeln. Ein feministischer Schrottplatz entsteht, ein scharfkantiges Terrain, das Schmerz in Kraft umwandelt.
Im Raum riecht es metallisch und nach Benzin. Mercedes Benz-Motorhauben lehnen an den Wänden, Autotüren liegen und hängen. Was mal Luxusgut und Statussymbol im reichen Westen war, wurde Müll in Bosnien und Herzegowina, landete auf dem Schrottplatz von Selma Salmans Eltern. Mit “Ophelia‘s Awakening” bei ChertLüdde wird der Metallschrott transformiert, wird geschichtsträchtiger Untergrund der Selbstporträts von Selma Salman – und für ihre lyrischen Worte aus der Serie “Letters to Omer”, einer fiktiven Figur.
“Dear Omer, my feet are on the ground, and my bones hurt. They say I look like a man, but it takes one woman to hold an entire nation on her back.”, steht in roten Versalien auf der schwarzen Tür einer ehemaligen Mercedes C-Klasse. Eine weitere Tür, auf der Kopf und Hals einer Frau zu sehen sind, schließt sich an. Ihr dunkles Haar verschwindet beinahe im schwarzen Autolack, ihr Gesicht ist unkenntlich durch einen Schlitz, der sich von ihrer Kehle blutig hochzieht. Die Vertiefung des Türgriffs ist die tiefste Stelle der Wunde, ein buchstäblicher Eingriff in die Identität. Trotz aller Brutalität erinnern die leidtragenden Türen doch an die Flügel eines Schmetterlings.
Schmerz hat Selman niemals aufgehalten, er ist vielmehr ihr Treibstoff, man kann ihn allgegenwärtig riechen, auch Blut riecht metallisch. “Dear Omer taking risks is my safe zone” steht auf einer Motorhaube, der Mercedes-Stern funkelt angriffslustig. Als Roma, als Muslima und als Frau 1991 in Bihać, einer kleinen bosnischen Stadt geboren und aufgewachsen, haben sich schmerzliche Geschichten von Krieg und Unterdrückung eingeschrieben. Ein familiäres Trauma, das Selma Salman mit ihrer Kunst auf- und angreift.
Auf einem kleinen Bildschirm läuft ein kurzes Video in Dauerschleife. Zu sehen ist die Künstlerin, die mit wehendem Haar und langem flatternden Kleid über eine leere Brücke rennt. Das Video referiert auf die traumatischen Erinnerungen von Salmans Mutter. Als Salman noch ein Baby war, brach in Bosnien Krieg aus. Mit einem Bus versuchte die Familie zu fliehen, doch an dieser Brücke ging es nicht weitergehen, sie war unpassierbar, zu viele Leichen lagen darauf. Salmans Mutter nahm ihr Kind auf den Arm, hielt ihm die Augen zu und rannte an den Toten vorbei. Über die leere Brücke rennt die erwachsene Selma Salman heute für alle sichtbar bei ChertLüdde – in Dankbarkeit an ihre Mutter, die sie vor dem Anblick schützte.
Eine alte Badewanne lehnt hochkant in einer Raumecke. Auf dem Grund der Wanne ein gemalter liegender nackter Frauenkörper, umhüllt von roter Farbe. Wie die ertrunkene Ophelia liegt sie dort. Ihr Scheitel blutrot, ihre Haut so weiß, dass der Körper leblos erscheint. Der einzige Hinweis auf Leben ist eine rote Linie, die aus der Vulva herunter zu ihren Füßen verläuft und mit dem Hintergrund zusammenfließt. Menstruationsblut als Lebenslinie. Immer wieder ist es das Blut, das die Transformation, den Zyklus antreibt, von Trauma und Tod hin zu Selbstermächtigung und Resilienz.
Salmans Ophelia ist stark, sie widersetzt sich, lässt sich nicht von den Männern in ihrem Umfeld sagen, wie sie zu fühlen hat. Sie fletscht ihre Zähne, raucht und riskiert die Verletzung. “Und es ist nicht so, dass ich Shakespeare nicht mag! Im Gegenteil, ich liebe Shakespeare, aber mir kam Ophelias Figur immer sehr verloren vor” (aus d. Engl.), so Selma Salman im Gespräch mit gallerytalk.net. Sie selbst, deren Gesicht in allen Porträts zu erkennen ist, verkörpert eine neue Ophelia, die das patriarchalische, das familiäre Trauma anfechtet. “Dear Omer, fear eats the soul”.
Langsam hat sich der Benzingeruch seinen Weg durch die Nase bis zur Zunge gebahnt und dort abgelegt, er hat alle Sinne durchdrungen. Genau wie die einschneidende Kraft von Selmans Kunst. Ihre Werke sind transformierte Fragmente der Vergangenheit, traumatische Erinnerungen, die Schutzschilder wurden, Symbole eines Kampfes für Frauen, für Roma, für ihre Familie und ihr Land. Selma Selman ist der Optimus Prime der künstlerischen Trauma-Transformation.
“Freiheit ist das Recht aller fühlenden Wesen”
– Optimus Prime, Transformer
WANN: “Ophelia’s Awakening” ist noch bis Samstag, den 9. November zu sehen.
WO: ChertLüdde, Hauptstraße 18, 10827 Berlin.