Die Kerne der emotionalen Existenz
Hamish Pearch in der Galerie Sans Titre (2016)

10. November 2021 • Text von

Sie sprießen und gedeihen, wachsen gar unkontrolliert aus sowohl lebenden Organismen als auch totem Material. Wie befallen von einer Ödnis gedeihen Pilzgeflechte mit ihren filigranen Stielen aus in den Räumen der Galerie Sans Titre (2016) angeordneten Skulpturen. Mit “Amygdala lost and found” widmet die Galerie dem Londoner Künstler Hamish Pearch seine dritte Einzelausstellung und präsentiert neben den für Pearch typisch filigranen Skulpturen zum ersten Mal auch seine Zeichnungen.

Skulpturen von Hamish Pearch
Hamish Pearch, Amygdala lost and found, 2021, exhibition view, Sans titre (2016), Paris, Photo: Aurélien Mole / all images copyright and courtesy of the artist and Sans titre (2016), Paris.

Lässt man den Lärm der Rue du Faubourg Saint-Martin im 10. Arrondissement von Paris hinter sich und steigt durch die Pforte in den ruhigen Innenhof, in dem sich die Galerie Sans Titre (2016) befindet, in die Ausstellungsräume, eröffnet sich eine sehr gelungen kuratierte Präsentation diverser Objekte von Hamish Pearch. Es sind Objekte aus welchen Pilze und Kakteen wachsen, Objekte, deren angedeuteter, aus dem Inneren evozierter Verfall nicht mehr aufzuhalten scheint. Es ist eine eigene Welt, die sich in den Galerieräumen momentan auftut – die Gedankenwelt des englischen Künstlers Hamish Pearch, in die man durch die an Tentakel erinnernde Auswüchse an seinen Skulpturen regelrecht eingesogen wird. Es ist eine Reise in das menschliche Unterbewusstsein und geradezu eine Konfrontation mit der eigenen Psyche. 

Drei blaue Zeichnungen des englischen Künstler Hamish Pearch
Hamish Pearch, Amygdala lost and found, 2021, exhibition view, Sans titre (2016), Paris, Photo: Aurélien Mole copyright and courtesy of the artist and Sans titre (2016), Paris.

Bevor man zu den im Hauptraum angeordneten Skulpturen gelangt, eröffnen sich an der linken Wand hinter dem Eingang großformatige Buntstiftzeichnungen auf dunkelblauem Grund. Es ist das erste Mal, das Pearch, der an der Royal Academy of Arts in London studierte, neben seinen Skulpturen auch Zeichnungen als neues Format in seine Ausstellung integriert. “Lost Goods”, “Lost House Mouse” oder “Lost Coolbox” – diese Titel der Werke verweisen bereits auf die Orte, die der Künstler ansprechen will; die vergessenen, leeren Plätze, an welchen die Gesellschaft ihren Abfall, ihren Mist ablädt. Im Meer versinkende, mit Gut geladene Container, eine detailgetreue skizzierte tote Hausmaus oder eine leere Kühlbox, es sind Szenarien der Verwahrlosung, Stillleben, in denen im wahrsten Sinne nichts mehr lebendig ist. 

Einblick in die Galerie sans titre mit den Werken von Hamish Pearch
Hamish Pearch, Amygdala lost and found, 2021, exhibition view, Sans titre (2016), Paris, Photo: Aurélien Mole copyright and courtesy of the artist and Sans titre (2016), Paris.

Nach wirklich lebendigen Organismen sucht man auch im Hauptraum der Galerie vergebens. Die angeordneten Plastiken, ein in Miniaturform angefertigter Bürostuhl aus Harz und Glasfaserkörnern, ein umgekippter Miniatur-Schreibtisch sowie ein Stapel altes Papier bilden den Nährboden für Kakteen und Pilze. Erstere Pflanzen stehen sinnbildlich für Lebensräume, in denen es für Menschen meist nicht möglich ist zu überleben, Letztere symbolhaft für ein aus dem Gleichgewicht geratenden Organismus. Wie der nicht mehr funktionierende Organismus steht auch die aus dem Gleichgewicht geratene Psyche des Menschen im Fokus.

Einblick in die Galerie sans titre mit den Werken von Hamish Pearch
Hamish Pearch, Amygdala lost and found, 2021, exhibition view, Sans titre (2016), Paris, Photo: Aurélien Mole copyright and courtesy of the artist and Sans titre (2016), Paris.

Auch aus den im Galerieraum verteilten drei menschlichen Köpfen, die in ihrer markanten Mimik an die Keramik-Köpfe von Thomas Schütte denken lassen, sprießen die dünnen Pilzstiele auf denen die rosa- oder gelb-farbenen Hüte sitzen. Wie wabernde, um sich greifende Rezeptoren wirken diese Auswüchse, die mit dem für das Auge nicht sichtbare Innere, den Tiefen der menschlichen Psyche verbunden sind. Darauf mag auch der Titel der Ausstellung verweisen, “Amygdala lost and found”, in dem Pearch auf das innerste unserer Existenz verweist. Als Amygdala bezeichnet man ein paariges Kerngebiet des Gehirns, abgeleitet ist die Bezeichnung aus dem Altgriechischen und bedeutet “Mandel(kern)”. Letztere zwei Kerne steuern gemeinsam mit dem Hippocampus unsere emotionalen Äußerungen und spielen eine essentielle Rolle in der Einschätzung und Wiedererkennung von Gefahren. Depression, emotionale Störungen, sowie Emotionen wie Angst und Aggressionen lassen auf Fehlfunktionen der Amygdala hinweisen. Genauso speichern sie alle Erfahrungen, die mit Emotionen zusammenhängen und formen aus uns die charakterliche Persönlichkeit, die wir sind.

Hamish Pearch, Amygdala lost and found, 2021, exhibition view, Sans titre (2016), Paris, Photo: Aurélien Mole copyright and courtesy of the artist and Sans titre (2016), Paris. // Hamish Pearch, Fruits, 2021, Photo: Aurélien Mole copyright and courtesy of the artist and Sans titre (2016), Paris.

Es ist ein Erforschen des Inneren, zu den Kernen unserer emotionalen Existenz – eine psychologische Reise, mit der Pearch auf gelungene und subtile Weise mit seinen diversen Objekten und Zeichnungen konfrontiert. Eine Reise in das Unterbewusstsein und ein Entgegenhalten des Spiegels, in dem deutlich wird, dass die menschliche, emotionale Psyche gesteuert von zwei Mandelkernen den Nährboden schafft für eine Welt, die nicht nur ein Ablaufdatum hat, sondern schleichend aber stetig aus dem Gleichgewicht gerät. 

WANN: Die Ausstellung “Amygdala lost and found” ist noch bis Samstag, den 27. November, zu besichtigen.
WO: Sans titre (2016), 33 rue du Faubourg Saint-Martin, 75010 Paris, France.

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