Nur wir zwei Samuel Haitz bei Grotto
16. Dezember 2024 • Text von Katrin Krumm
In den 1970er-Jahren zog der US-amerikanische Poet Tim Dlugos mit 26 Jahren nach New York und dokumentierte seine Ankunft in Tagebucheinträgen, die später als “New York Diary” veröffentlicht wurden. Diese Erzählungen von Liebe, Freundschaft und Stadtleben bilden die Grundlage für Samuel Haitz’ Ausstellung “Projection” bei Grotto. Haitz verbindet darin zwei Lebensgeschichten, indem er Dlugos’ Biographie als Folie für seine eigenen autobiografischen Kommentare verwendet.
Ein verstohlener Blick über die Schulter. Kein Augenkontakt, und doch tasten die Augen ab: Samuel Haitz’ Fotografie “You Are There (Max reading)” zeigt Max, einen Freund des Künstlers. Er sitzt entspannt, die Beine überkreuzt, sodass der Stoff seiner Hose sanfte Falten wirft. In den Händen hält er einen Gedichtband des 1990 verstorbenen Autors Tim Dlugos und liest aus dessen Gedicht „You Are There“.
Während der Sammelband Dlugos’ poetische Stimme einfängt, vermittelt eine spätere Veröffentlichung Einblicke in das Leben des Autors: Fast 30 Jahre nach seinem Tod wurden Dlugos’ Tagebucheinträge 2021 von seinem Freund David Trinidad veröffentlicht. „New York Diary“ folgt dem Alltag des Autors im New York der 1970er-Jahre. Dlugos hält darin die Zeit fest, als er mit 26 Jahren als schwuler Mann und Poet von Washington, D.C. in die Metropole zog – eine bewusste Entscheidung, sich sowohl der lebendigen Kunst- und Literaturszene anzuschließen und ein politisch aktives, queeres Leben zu führen, als auch seinem früheren Leben in einer katholischen Glaubensgemeinschaft endgültig den Rücken zu kehren. In datierten Tagebucheinträgen dokumentiert er Beobachtungen des Alltäglichen der dortigen Literaturszene in all ihren Facetten: Wer war mit wem wann essen? Wer sind die neuen Stars der Szene? Wer schläft mit wem? Er hält das fest, was nebenbei passiert, nennt dabei die Namen befreundeter Autor*innen oder erzählt von der Teilnahme am Christopher Street Day.
Dlugos‘ Tagebucheinträge sind Ausgangspunkt für die Ausstellung „Projection“ des Künstlers Samuel Haitz bei Grotto im Berliner Hansaviertel. Die Arbeit “Archive (Anthology (Diary), 2024)“ ist eine Reproduktion seiner 80-teiligen Diashow, die bei ihrer erstmaligen Präsentation in einem schweizer Kunstraum gestohlen wurde. Sie besteht aus einem Diamagazin, das zentral im Raum in einer kniehohen Stele eingelassen ist. Die Motive der Dias folgen Dlugos’ Ankommen in New York. Haitz scannte dafür die Buchseiten der aufgeschlagenen Publikation.
Für “Index (Anthology (Diary), 2024)” ließ Haitz Abzüge dieser Dias herstellen und richtete sie in einem gerahmten Print an einem Raster aus. Die darauf abgebildeten Buchseiten werden jeweils seitlich durch das dunkle Schwarz des Hintergrunds der Scannerfläche eingefasst. Sie weisen physische Spuren des Gebrauchs auf – an einigen Seiten sind Eselsohren. Wie auch in der Arbeit “You Are There (Max reading)” sind einige der Absätze in hellblauer Farbe unterlegt. Die buchstabenhohen Linien führen meist sorgfältig entlang der Zeilen. Diese Markierungen wurden von Haitz auf den digitalen Scans des Buchs von Hand konstruiert und hinzugefügt. Manchmal sind nur einzelne Wörter oder Buchstaben hervorgehoben, während die Linien an anderen Stellen wirken, als seien sie beiläufig oder gedankenverloren aufs Blatt gesetzt worden.
Haitz betont nicht nur das Ausgangsmaterial, sondern schreibt auch sich selbst in den Erzählungen ein. Für “Index (Anthology (Diary), 2024)” collagiert er viele der Buchseiten mit Screenshots von Beiträgen und Reposts, die er aus seinem eigenen Profil auf der Kurznachrichtendienst-Plattform “X” nahm. Oft ist es ein einziger Beitrag, bestehend aus Text oder Bild, an einigen Motiven verdecken mehrere Einträge den gesamten Text der Tagebucherzählung. Die von Haitz ausgewählten Screenshots zeigen Aufnahmen aus dem Alltag des Künstlers: einem Sektempfang auf der Art Basel, Einblicke aus seinem Studio sowie Fotos aus der Wohnung, Amazon-Bestellbestätigungen, Selfies und Fotos von Freund*innen, Listen, eigene Werke sowie die befreundeter Künstler*innen. Einer der Beiträge zeigt ein Foto des Buchs “Why Love Hurts” der Soziologin Eva Illouz, ein anderer ein Foto, auf dem Haitz einen Kaffeebecher in der Hand hält.
Durch die Datumsangaben in den einzelnen Posts wird erkennbar, dass die Beiträge jeweils an denselben Tagen veröffentlicht wurden, auf die Dlugos seine Tagebucheinträge datierte – wodurch dessen Erzählungen zur Folie für Haitz’ vorsichtige Kommentare werden. Diese Form der Überlagerung spiegelt sich in Haitz’ künstlerischer Praxis wider, insbesondere in seiner Verwendung verschiedener Vitrinenformen. Sie dienen ihm häufig als Träger oder Gefäß für assoziativ wirkende, doch sorgfältig ausgewählte autobiographische Zusammenstellungen und Kompositionen. In der Ausstellung tritt dieses Motiv gleich an mehreren Stellen hervor: etwa im Diakarussell als physischem Träger der einzelnen Motive oder in den 80 aufgeklebten C-Prints der Dia-Motive auf einem gerahmten Inkjet-Print.
Eine Vitrine kann ebenfalls als kuratierte Auslagefläche für ein potenzielles Publikum verstanden werden. Analog setzt auch “Projection” an vielen Stellen eine Öffentlichkeit voraus – wie etwa die implizite Existenz von Zuschauenden, wenn sich ein Diakarussell oder ein Projektionsgerät in einem Raum befindet, dem sozialen Netzwerk auf Social Media Plattformen oder auch einfach die Leserschaft eines Buches.
Das Publikum erlebt dabei einen Moment der unerfüllte Verheißung: Dieser zeigt sich sowohl in der Nicht-Einlösung der Erwartung an eine klassische Diashow als auch in der suchenden Spur innerhalb der markierten Textstellen oder kommentierten Buchseiten – nach Authentizität und Intimität. Letztlich müssen sich die Betrachtenden damit abfinden, dass sie hier nicht die Adressierten sind. Ähnlich wie in einer modernen Gatsby-Interpretation wird das Publikum zwar bewusst eingeladen, dient jedoch lediglich als Schauplatz für die eigentliche Geschichte: eine rhythmische Poesie des Alltäglichen, die sich im nebeneinander gestellten Erleben zweier Künstler entfaltet.
WANN: Die Ausstellung “Projection” läuft bis Samstag, den 11. Januar 2025.
WO: GROTTO, Bartningallee 5, 10557 Berlin.