Wohin soll es gehen? Sally von Rosen bei Von der Hoeden Contemporary
18. November 2024 • Text von Katrin Krumm
In der Ausstellung “Sotto voce” in der Hamburger Galerie Von der Hoeden Contemporary präsentiert Sally von Rosen ihre neueste Werkgruppe. Ausgehend von den Überlegungen der US-amerikanischen Philosophin Jane Bennett untersucht sie die Handlungsfähigkeit von Materie – unabhängig vom Menschen.
Verbunden durch einen in sich gedrehten Torso läuft ein Körper in vier Gliedmaßen aus. Jeweils zwei vermeintliche Körperteile zeigen in gegenüberliegende Richtungen, nur an wenigen Punkten berühren sie den hellen Steinboden der Galerie. Auch wenn man über das breite Schaufenster den Ausstellungsraum der Galerie Von der Hoeden Contemporary betritt und der Skulptur näher kommt, lässt sich lediglich die Vermutung anstellen, dass hier zwei zielgerichtete Bewegungen um die Vorherrschaft des nächsten Schritts kämpfen.
Sally von Rosens Skulptur “Sinous” umgibt die Aura einer kurz bevorstehenden Handlung, die das rätselhafte Wesen zum Leben erweckt. Die Suche nach einem Gesicht, welches Aufschluss über eine Empfindung oder Absicht geben könnte, bleibt erfolglos. Dennoch – oder besonders deshalb – fordert es von den Betrachtenden eine sinnliche Bezugnahme ein.
In ihren Überlegungen zu nicht-lebendigen Objekten bezieht sich von Rosen auf die Theorien der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin und Philosophin Jane Bennett, die sich in ihrer Publikation “Vibrant Matter” mit den Beziehungen des Menschens zur Natur, Technologie und Umwelt auseinandersetzt. Indem sie Materie als aktiv handelnd anerkennt, plädiert Bennett für eine Dezentralisierung des Menschen als handelndes Subjekt und fokussiert sich auf die Rolle von Dingen als Akteur*innen.
Die Arbeit “Sinous” ist umgeben von vier gerahmten Reproduktionen von Skizzen des niederländischen Malers Hieronymus Bosch. Die Skizzen galten als Vorlage seiner Malereien. Von Rosen traf auf die Originalzeichnungen im Kupferstichkabinett in Berlin und ließ sie mittels einer Zeichenmaschine und Tintenstift in Originalgröße auf Archivpapier reproduzieren. Sie zeigen verschiedene Szenerien sowie Wesen, die sich in fantastischen Stadien der Transformation befinden. Im Zentrum einer seiner Zeichnungen steht ein Baum auf einem Hügel. In einem sich dahinter befindenden Laubwald lehnen menschliche Ohren an den Baumstämmen, während sich im Feld im Vordergrund vereinzelte menschliche Augenpaare wiederfinden, die die Betrachtenden anblicken. “Das Feld hat Augen, der Wald hat Ohren” ist die Visualisierung eines mittelalterlichen Sprichworts, das zur Vorsicht im Umgang mit Worten in der Öffentlichkeit mahnte. Andere Zeichnungen zeigen eine Reihe unterschiedlicher Fabelwesen, die menschliche wie tierische Züge in sich tragen und sich in verschiedenen Stadien der Transformation befinden.
Flankiert werden die Reproduktionen von einer Malerei, die sich auf der gegenüberliegenden Seite der Glasfront befindet. Sie zeigt die Skulptur “Sinous” als Motiv im Zentrum, dieses Mal jedoch in einer liegenden Pose, drapiert auf einem mit Stoff überzogenen Sessel. An den Seiten des Rahmens tritt eine organische Masse hervor, die sich wie eine wabernde, lebendige Schicht um das Gemälde legt.
Von Rosens Umgang mit den Wesen ihrer Arbeiten lässt sie als Erzeugerin in den Hintergrund treten. Vielmehr stellt sie ihnen Werkzeuge zur Verfügung, mit denen sie sich die Mittel zur Reproduktion selbst aneignen können. Im Schnelldurchlauf unterlaufen sie verschiedene Stadien der Geburt, Reproduktion und Evolution, während von Rosen begleitend und mit minimalen Berührungspunkten sie anzuleiten scheint.
Der Ausstellungstitel “Sotto voce” ist dem gleichnamigen Begriff aus der Rhetorik und des Theaters entnommen: Er beschreibt den Effekt, einer Aussage bewusst Nachdruck zu verleihen, indem sie in einer unterdrückten, leisen, fast unhörbaren Tonlage getätigt wird. Ein leises, nachgeschobenes “Und sie bewegt sich doch” (im Original: “E pur si muove”) ist eine Aussage, die dem italienischen Mathematiker und Philosophen Galileo Galilei zugesprochen wird.
Dieser soll es nach einer Anhörung der Inquisition behauptet haben, nachdem er zuvor gezwungen wurde, seine Aussage zu widerlegen, dass die Sonne sich um die Erde drehte – im Gegensatz zur damals weit verbreiteten Ansicht der Kirche, dass die Erde im Zentrum von allem stünde. Ein vorsichtiger Vorschlag, den von Rosen auch in ihrer Ausstellung präsentiert.
WANN: Die Ausstellung “Sotto voce” von Sally von Rosen läuft bis Donnerstag, den 24. November.
WO: Von der Hoeden Contemporary, Colonnaden 72, Hamburg.