Ein Kinderspiel Ryan Gander bei Esther Schipper
11. November 2024 • Text von Lara Brörken
Wie wollen wir unsere Zeit verbringen? Jeden Tag lassen wir sie uns stehlen, müssen uns bemühen, Momente der Stille und Regungslosigkeit auszuhalten. Regiert von technischen Geräten, Geschwindigkeit, Trends und Begriffen wie Selbstoptimierung möchte Ryan Gander mit seiner Ausstellung “This is feeling all of it” bei Esther Schipper, dass wir uns einfach mal wieder langweilen. Dass wir den Zweck ignorieren, kindisch sind!
Dino, Hot Dog Hälfte 1, Hot Dog Hälfte 2, gelber Frosch, Palme, Legostein, Popcorn, Würfel, Stuhl, Dreieck, Kreis, lila Frosch, Octopus, Blume, Zange, Spinne, Stab, Schraube, Korken, Kugel, Schlauch, Kegel, Burger, Tomate, Wichtel, Baustein, grüner Frosch – Akribisch aufgereiht stehen unzählige kleine Spielzeuge auf dem Boden der Galerie Esther Schipper, die sich mit Ryan Ganders Ausstellung “This is feeling all of it” in eine buchstäbliche Spielwiese verwandelt hat. So kompakt die Spielzeuge aus der Ferne zu flächigen Inseln verschmelzen, so kleinteilig und beinahe fragil erscheint das Konstrukt aus der Nähe. Als könnte jede kleine Berührung einen Dominoeffekt auslösen. Eine Reihe von Emotionen wird hingegen unweigerlich losgetreten. Erinnerungen machen sich breit und das innere Kind weiß vor Freude gar nicht wohin mit sich. Welches kleine Teilchen mir, der kleinen Lara am besten gefällt frage ich mich. Vermutlich der kleine rote Stuhl.
Mit dieser Arbeit “Closed systems” zitiert Ryan Gander die Spielweise seines sechsjährigen Sohnes Baxter. Baxter ist Autist, er spricht nicht und ihm fällt es schwer seinen Körper still zu halten und indem er sortiert, spielt er. Baxter spricht Körpersprache, sein Vater hingegen kann das aufgrund seines Rollstuhls nur bedingt, er liebt Worte. Im Gespräch in der Galerie bezeichnete Gander das Verhältnis zu seinem Sohn aufgrund ihrer absolut gegensätzlichen Ausdrucksweisen als “Mismatch”, dem eine besondere Schönheit innewohnt.
Die Schönheit der Unterschiedlichkeit, die Kraft und auch Zartheit ihrer Beziehung hat sich im Galerieraum ausgebreitet. Über 1500 Postkarten bedecken wie ein Puzzle zusammengesetzt beinahe eine ganze Wand. Es ist ein 20 Sekunden langer Scan von Baxter in Bewegung, ein Porträt seines Sohnes als digitale Marmorfigur. Er nimmt jedoch eine wolkenähnliche Form an, wird aufgrund seiner Bewegung eine schwerelose Gestalt.
Bin ich gerne in Bewegung? Wie verbringe ich gerne meine Zeit? Und wie lange habe ich mich das nicht mehr gefragt? Das Smartphone scheint wie ein Dementor über den Köpfen, vor den Gesichtern der Menschen zu schweben und ihnen ihre Zeit, ihre Geduld, Konzentrationsfähigkeit und Ruhe auszusaugen. Es ist wie im Kinderbuch “Momo”, nur dass die grauen Herren in diesem Fall Displays sind. Gander beschreibt die Welt als eine “oversensationalised and desensitivised world”. Zu viel prasselt permanent von außen herein, wird hereingelassen und die Gefühlswelt, die Fantasie kommt nicht mehr raus und wenn mal nichts passiert, nichts los ist überwältigt einen die Nervosität.
Mit “Ryan Waiting” reagiert Gander auf unsere Zeit ohne Zeit. Die Virtual Reality-Arbeit kann in einer halbkreisförmig aufgebauten Bildschirm-Installation oder über eine VR-Brille virtuell betreten werden. Zu sehen ist ein kleiner Ryan Gander-Avatar, der wartet. Er dreht sich mal im Kreis, rollt von links nach rechts und andersherum. VR, aber langweilig, eine humorvolle reflektierende Reaktion auf den digitalen zeitraubenden Rausch der Gegenwart.
Es ist spannend sich selbst aber auch andere Besucher*innen zu beobachten, zu gucken, wie lange sie die Langeweile aushalten. Die Arbeit wird permanent mit Umgebungsdaten gefüttert, sodass sich Ryans Verhalten immer ein wenig auch je nach Wetter, Uhrzeit oder der Anzahl an Orten, an denen er sichtbar ist, verhält. Dieser digitale Ryan wird sich entwickeln – und er wird uns alle überleben.
Dass sich Gander über die Endlichkeit des Lebens Gedanken macht, unser aller Sterblichkeit nicht versucht auszublenden und von einer Reizüberflutung wegspülen zu lassen, zeigt auch seine Arbeit “Idea Machine”. Eine goldene Platte an der Wand, ein kleiner Schlitz und darunter ein Knopf. Drückt man ihn, kommt ein kleiner Zettel heraus, auf dem eine Idee des Künstlers steht. Idee-to go, denn Gander hat zu viele davon. Dem Wissen darüber, zu viele Ideen zu haben und diese niemals in einem Leben alle verwirklichen zu können, liegt ein Druck inne, den er nicht will. Teilen ist die Lösung. Er gibt sie frei, entlässt sie von seiner To-do-Liste in die Welt. Das Gegenteil von “Gatekeeping”, eine Praxis die doch eigentlich auch mal ein schöner Trend wäre.
Hier gibt dennoch einen “Gatekeeper”, aber einen guten: Es ist eine Frage. Sie verstopft einen der beiden Zugänge zum Galerieraum. Wie ein Korken hat sich ein riesiger schwarz glänzender Plastikball in den Durchgang gesetzt. Auf ihm steht “Do ghosts have teeth?”. Diese Arbeit wirkt beinahe wie ein Mahnmal, das verloren gegangenen kindlichen Fantasien gedenkt. Warum sind Fragen wie die danach, ob Gespenster Zähne haben ab einem gewissen Alter nicht mehr niedlich, sondern kindisch? Wer hat das entschieden? Fragen sind wichtig, nur wenn Fragen immer wieder neu gefragt und neu beantwortet werden, lässt sich Diskriminierung vermeiden, so Gander. Veraltete Antworten verstopfen das System, kindliche Fragen beschützen die Fantasie. Die Fantasie braucht einen Türsteher, aber nicht, damit sie versperrt, sondern erhalten bleibt.
Was passieren könnte, wenn es den Einflüssen gelingt, die eigenen Werte aus den Augen zu verlieren, fasst Gander in einer animatronischen Puppe zusammen, die in der Ecke auf Müllbeuteln liegt und lallend in den Raum wettert. Es ist ein Selbstporträt, aber in der schlechtmöglichsten Version. “It was a hard work to do and it is a hard work to look at” sagt er, denn Gander erkennt sich darin, weiß, dass es nicht ausgeschlossen ist, dieser narzisstische, bankrotte, trinkende Künstler zu werden. Diese lallende Puppe ist nur für Gander selbst schwer zu betrachten, alle anderen werden es mit Freude tun, sie ist eine Karikatur, ein humorvolles Spiel mit den eigenen Schattenseiten. Eine Warnung auf kindisch.
Ryan Gander gibt mit “This is feeling all of it“ jede Menge Denkanstöße, er würdigt die Diversität, die Wahrnehmung, die Fantasie und die Zeit, die wir uns nicht nehmen lassen sollten. Ich pinne mir jetzt Ganders gezogene Idee “Figurative Sculptures to Embrace” als Erinnerung an den Spiegel und entstaube meine Bastelkiste, denn ich habe gezählt, wie oft ich auf mein Handy geschaut habe, während ich diesen Artikel geschrieben habe – 14 Mal.
WANN: “This is feeling all of it” ist noch bis zum 7. Dezember zu sehen.
WO: Esther Schipper, Potsdamer Straße 81E, 10785 Berlin.