Schlaflos im Ruhrgebiet
Das “Ruhr Ding: Schlaf” von Urbane Künste Ruhr

12. Mai 2023 • Text von

Der vermeintlich unproduktive Zustand des Schlafens hat heute fast schon etwas Widerständiges, obwohl er doch als Quelle für Energie wie Inspiration eigentlich existenziell ist. Das Ausstellungsprojekt “Ruhr Ding” widmet sich als Abschluss einer Trilogie dem Thema Schlaf, lädt mit Projekten an 22 Standorten zum Tagträumen ein. Initiiert von den Urbanen Künsten Ruhr erwachen im Mai und Juni die alten Bergbaugebiete Mülheim an der Ruhr, Essen, Witten und Gelsenkirchen zu neuem Leben.

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Urbane Künste Ruhr, Ruhr Ding Schlaf, Mülheim, Viron Erol Vert, © Daniel Sadrowski.

Schlaf ist Quelle der Energie, aber auch der Inspiration, wenn er in Form von Traumbildern die Augen benetzt, Gedankenräume flutet und die Träumenden surreale Vorstellungswelten durchschwimmen lässt. Stühle stehen auf der Kippe, Tentakel ragen über Dächer, alte Warenhäuser öffnen den Blick in die Unendlichkeit. All das in einer Region, die einst durch Bergbau gekennzeichnet war, wo in den 1960er-Jahren die ersten Zechen geschlossen wurden und die Angst vor einem Dornröschenschlaf der Region wie ein Stein auf der Brust der Arbeiter*innen lag. Relikte der Industriekultur bestimmen die heutigen Stadtbilder, sind dem Verfall ausgesetzt, wie in einem Schneewittchensarg stillgelegt. Es sind Gebäude, die selbst wie im Schlaf liegen, von Ängsten, Sehnsüchten und Wünschen gebrochener Biografien erzählen, die Traum und Alptraum in einem sind.

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Urbane Künste Ruhr, Ruhr Ding Schlaf, Essen, Joanna Piotrowska, © Henning Rogge.

Schlaf als unproduktiver Zustand hat heute angesichts ungebremsten Konsums, fortschreitender Globalisierung und konstanter Verfügbarkeit fast schon etwas Widerständiges. Ist er die letzte Festung eines nicht bis ins Äußerste optimierten Selbst? Einzig verbliebener Rückzugsort in rastloser Arbeitswelt? Das Ausstellungsprojekt “Ruhr Ding: Schlaf” bildet nach dem “Ruhr Ding: Territorien” 2019 und dem “Ruhr Ding: Klima” 2021 den Abschluss einer Trilogie initiiert von den Urbanen Künsten Ruhr unter der Leitung von Britta Peters. 22 “Ruhr Ding”-Projekte von 19 Künstler*innen und Kollektiven bespielen im Mai und Juni für einige Wochen den Süden des Ruhrgebiets, genauer Mülheim an der Ruhr, Essen, Witten und Gelsenkirchen.

Ruhr Ding Schlaf Gondry 6716 min
Urbane Künste Ruhr, Ruhr Ding Schlaf, Mülheim, Michel Gondry, © Henning Rogge.

Der Oscar-prämierte Regisseur Michel Gondry zum Beispiel zieht mit seiner “Home Movie Factory” in eine alte Industriehalle in Mülheim. Dort werden die Besuchenden eingeladen, innerhalb verschiedener Filmkulissen von Gefängnis bis Schlafzimmer in einem dreistündigen Parcours eigens als Traumfabrikant*innen tätig zu werden und einen kleinen Film zu produzieren.

Das ist ganz im Sinne der Urbanen Künste Ruhr, sind diese doch bekannt für spartenübergreifende und partizipative Projekte an ungewöhnlichen Orten, zwischen denen es sich am besten zu Fuß, mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen lässt. Die verschiedenen Standorte zu durchstreifen fühlt sich an wie eine Schnitzeljagd, wenn nicht nur klassische Kunstorte bespielt werden, sondern vor allem Räume, die sonst wenig mit Kunst zu tun haben. So findet sich Kunst im Pumpraum eines ehemaligen Wasserwerks, in leerstehenden Warenhäusern, in einer Privatwohnung, unter Brücken oder digital.

Ruhr Ding Schlaf Rasheed 5621 min
Urbane Künste Ruhr, Ruhr Ding Schlaf, Essen, Kameelah Janan Rasheed, © Henning Rogge.

In Mülheim gestaltet Künstler Viron Erol Vert aus einer leerstehenden Trinkhalle auf dem Rathausplatz gemäß der persischen und türkischen Herkunft des Wortes “Kiosk” einen vielfarbigen Pavillon. Vormals bekannter Schandfleck inmitten der Innenstadt wandelt sich der ehemalige Kiosk plötzlich zum Kleinod inmitten der städtischen Betonwüste, gibt sich von oben verspiegelt von der Fahrradbrücke aus als Ort der Reflexion in den Wirren des Alltags zu erkennen. Nutzbare Kräuter werden nun für alle zugänglich angebaut, sodass sich bereits zu Beginn des Ausstellungsprojekts ein neuer, dringend notwendiger Begegnungsort für die Stadtgemeinschaft entwickelt. 

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Urbane Künste Ruhr, Ruhr Ding Schlaf, Witten, Melanie Manchot, © Henning Rogge.

Urbane Künste Ruhr bespielt die verschiedenen Standorte nicht nur, sondern bezieht die Stadtgesellschaften aktiv mit ein. So lässt sich im soziokulturellen Zentrum WERKºSTATT die Videoarbeit “Liquid Skin” der gebürtig aus Witten stammenden Melanie Manchot erleben, welche zehn Nachtarbeiter*innen wie Pole-Dancerin, Türsteherin oder Bäckerin aus dem Ruhrgebiet mit einer Infrarot-Filmkamera begleitete. Die Personen agieren in einer spannungsgeladenen Atmosphäre mit den sie umgebenden Räumen wie beispielsweise dem Keller der Villa Hügel. Angesichts des auch nächtlich produzierenden Stahlwerks in Witten ist Nachtarbeit nicht unüblich.

Ruhr Ding Schlaf Rogalska 5895 min
Urbane Künste Ruhr, Ruhr Ding Schlaf, Essen, Alicja Rogalska, © Henning Rogge.

In Essen-Steele können zudem in einer mobil einsetzbaren Architektur auf der sogenannten Ballspielwiese, dem “sprechenden Eck” der Künstlerin und Kunstpädagogin Maximiliane Baumgartner, von lokalen Geschäften Aufträge eingereicht werden, die mit künstlerischen Mitteln von am Projekt beteiligten Kindern und Jugendlichen erledigt werden. Ebenfalls in Essen-Steele richtet Alicja Rogalska in einem privaten Apartment mit “Sister Flats II” einen Diskussionsort für die Auseinandersetzung mit der städtebaulichen Entwicklung von Steele sowie für die Erarbeitung emanzipatorischer Zukunftsvisionen ein.

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Urbane Künste Ruhr, Ruhr Ding Schlaf, Essen, Stephanie Lüning, © Henning Rogge.

In engen Stadträumen tut sich mit den gemeinschaftlich gedachten künstlerischen Projekten gedankliche Weite auf, weitet sich der Blick auch mit surreal anmutenden Szenerien wie im Mülheimer Makroscope und dem dort ansässigen Museum für Fotokopie, den das Kollektiv “The Wig” zwischen Teppichboden und einer mit Laken bestückten Decke mit einem im Schwebezustand befindlichen Stuhl ausstattete. In Essen-Steele hüllte Stephanie Lüning am Eröffnungswochenende den öffentlichen Raum – so wie ein Traum die Augen flutet – in bunte Schaumberge ein. Als Überbleibsel der Aktion findet sich mit “Temporarily not Available” eine ausrangierte gelbe Telefonzelle vor Hochhauskulisse, aus deren Innenraum mittels solarbetriebenem Generator dauerhaft Schaum quillt.

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Urbane Künste Ruhr, Ruhr Ding Schlaf, Essen, Wojciech Bakowski, © Henning Rogge.

Ein besonderes Highlight sind zudem die Arbeiten des polnischen Künstlers Wojciech Bakowski, der gleich zwei Orte bespielt. In den Räumlichkeiten des Neuen Essener Kunstvereins finden sich in “Route Phantom” Kohlezeichnungen auf geschmirgeltem Karton, die surreale Szenerien von gefluteten Innenräumen voller schwebender Fische oder in Düsternis gehüllte Stadtansichten zeigen. Realität und Fiktion verschmelzen, wenn Träume gleichberechtigt neben Erinnerungen stehen, sich zu einer untrennbaren Gesamtheit zusammenfügen. Begleitet wird die Betrachtung der kleinformatigen Zeichnungen von einem Sound, welcher dem Gluckern von Heizungen nachempfunden ist. Ein Geräusch, das uns zuweilen nachts aus tiefem Schlaf aufschrecken lässt.

Zusätzlich verwandelt Bakowski unweit des Kunstvereins einen leerstehenden Kiosk in einen alptraumhaften Schaukasten. Bahnen umrunden den Ausstellungsort auf der Wiese inmitten der Gleisschleife und lassen einen Blick auf das über einer Straßenbahnkarte von Poznan schwebende Bett zu. Seile und Kegeln einer Uhr durchdringen die dunkle Schlafstätte, scheinen dabei im Nichts zu wurzeln.

Ruhr Ding Schlaf Healing Complex 5765 min
Urbane Künste Ruhr, Ruhr Ding Schlaf, Gelsenkirchen, Healing Complex, © Henning Rogge.

Nach Umwelt und Umgebung wird nun abschließend der menschliche Körper fokussiert und dessen Schlafgewohnheiten reflektiert. Eine klare Trennung zwischen Schlaf, Freizeit und Arbeit hat erst mit der Industrialisierung stattgefunden. Diese historischen Schichtungen spiegeln sich in Beton gegossen besonders im Stadtteil Steele in Essen wider, sind Zeugnis städtebaulicher Fehlkonstruktion. In der postindustriellen Zeit wird der alte Acht-Stunden-Rhythmus jedoch zunehmend unwichtiger. Wie wollen wir also zukünftig leben in einer Welt der neoliberalen Ökonomien, Flexibilisierung der Arbeitswelt und andauernder Vermessung wie Optimierung?

Ruhr Ding Schlaf God's Entertainment 6790 min
Urbane Künste Ruhr, Ruhr Ding Schlaf, Witten, God’s Entertainment, © Henning Rogge.

Am Ende des Schlafes steht immer ein mit neuer Kraft Erwachen, ein aus unbewusstem Zustand Bewusstsein Erlangen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass die gesamte Welt aus ihrem Schlafzustand erwacht und die drängenden Probleme der Gegenwart angeht. Einen Lösungsansatz bietet Irena Haiduks “Healing Complex” in die Kirche Sankt Bonifatius in Gelsenkirchen, der eine an das unterirdische Netzwerk von Pilzfäden angelehnte Tauschökonomie zur Diskussion stellt. Auch wenn das Wiener Theaterkollektiv “God‘s Entertainment” den von einem Oktopus bekrönten Wittener Saalbau in ein untergegangenes Kreuzfahrtschiff umbaut – noch ist Zeit für “tentakuläres Denken”, ein empathisches Einfühlen in die Welt.

WANN: “Ruhr Ding: Schlaf” läuft bis Sonntag, den 25. Juni, mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr.
WO: An verschiedenen Standorten in Mülheim an der Ruhr, Essen, Witten und Gelsenkirchen. Alle Infos zu den Standorten, geführten Rundgängen und Links zu Routen auf Komoot findet ihr auf der Website der Urbanen Künste Ruhr.

Wenn ihr mehr über das “Ruhr Ding” erfahren wollt, findet ihr hier eine Review zum “Ruhr Ding: Klima” aus dem Jahr 2021.