Rituale als Zuflucht
Die Kuratorin Cathrin Mayer über Kris Lemsalu Malone und estnischen Schamanismus

17. April 2020 • Text von

Die estnische Künstlerin Kris Lemsalu Malone bricht mit der Schwere ihrer Heimat und bringt mit ritueller Performancekunst Leben in die Bude. Den wilden Schamanismus gibt’s gerade im KW Institute for Contemporary Art zu sehen und obendrauf auch noch online.

Kris Lemsalu, Keys Open Doors, 2018, Courtesy die Künstlerin / the artist, Temnikova & Kasela Gallery und / and Koppe Astner Gallery

gallerytalk.net: Inwiefern spielt das Mystische in den Perfomances und der Ausstellung „Love Song Sing-Along“ von Kris Lemsalu Malone eine Rolle?
Cathrin Mayer: Für sie ist es unglaublich wichtig, eine bestimmte Atmosphäre zu kreieren. Das betrifft das Setting, die Arbeitsweise und die Kollaborateur*innen, mit denen sie im Austausch steht. Das Mythologische erzeugt eine Art Zufluchtsort vom täglichen Rhythmus, der sie von der Außenwelt abschirmt. Das ist nicht nur in ihren Arbeiten sichtbar, sondern in ihrer ganzen Art zu leben. Neben vielen Reisen, ist sie oft sehr lange im Studio, so dass ihr Verhältnis zu Raum und Zeit nicht mehr deutlich erkennbar wird. Dem liegt eine starke Energie zugrunde, aus dem Regulierten auszubrechen. Ich glaube, dieses Gefühl ist sehr zeitgenössisch und es geht es vielen von uns so.

Kris Lemsalu, Car2Go, 2016, Copyright Julien Gremaud / Les Urbaines, Courtesy die Künstlerin / the artist und/ and Koppe Astner, Glasgow; Temnikova & Kasela, Tallinn. Foto / photo: Julien Gremaud

Meinst du, dies ist ein Thema der jüngeren Generation? Dort spielen das Ausbrechen und die Naturverbundenheit ja eine große Rolle, vielleicht auch ein gewisser Antikapitalismus.
Genau, das sind auch Themen, mit denen sie sich beschäftigt. Zum Beispiel, wenn sie eine Keramik macht, fährt sie auf eine bestimmte Insel in Estland, auf der es einen großen Ofen gibt. Als eine Art Ritual wird dann dort dieser Ofen befeuert und die Keramik hergestellt. Das entspricht nicht einer täglichen Arbeit, sondern ist ein Prozess, der viel Zeit in Anspruch nimmt. Das kann sich über eine ganze Nacht ziehen und ist körperlich sehr anstrengend. Aber im Mittelpunkt davon steht ja gerade die Erschaffung einer eigenen Realität. Kris Lemsalu Malone sieht ja auch aus wie eine Kunstfigur. Sie verkörpert ihre eigene Kunst.

Kris Lemsalu, Keys Open Doors, 2018, Courtesy die Künstlerin / the artist, Temnikova & Kasela Gallery und / and Koppe Astner Gallery

Welche Rolle hat der Ritualcharakter in ihren Performances?
Ihre Performances sind häufig schamanistisch beeinflusst. Der Schamanismus ist für sie von großer Bedeutung, da diese Praxis in die Zeit vor der Industrialisierung zurückgeht und etwas Urtümliches hat.

Hast du das Gefühl, dass dieser Ansatz sehr stark in nordeuropäischen Ländern verankert ist?
Die Natur bestimmt in Skandinavien und Nordeuropa sehr stark die Lebensart der dortigen Bewohner. Man kann sich wenig dagegen aufbäumen. Vielleicht erleben wir das auch gerade in Deutschland und müssen uns darauf einstellen auch zukünftig mit extremeren Naturbedingungen umgehen zu müssen. Ich war selbst schon häufig in Estland und war dort einmal bei einem Konzert, vor dem sich ein Bildschirm mit Naturaufnahmen abspielte. Die Klänge waren nicht nur mystisch und sphärisch, sondern standen im starken Kontext zu einer Mythologisierung. In der estländischen Kultur haben ja auch Trolle und Figuren, die in den Wäldern leben, eine große Bedeutung. Aber Kris Lemsalu Malone zerrt nicht nur davon, sondern vermischt unterschiedliche Herangehensweisen. Kürzlich war sie in Mexiko und arbeitet derzeit vermehrt mit Material, das sie dort gefunden hat. Ihre Arbeit ist am Ende weniger spezifisch geografisch zu verorten, sondern vielmehr zentralistisch.

Kris Lemsalu, Holy Hello, 2018, Jacuzzi tub, ceramics, quilts, mannequins, textiles. Courtesy die Künstlerin / the artist. Foto / photo: Mark Blower

Wie ist die estnische Kunstszene allgemein aufgestellt?
Ich habe das Gefühl, dass dort in den letzten Jahren sehr viel passiert ist. Es gibt eine jüngere Generation, die Ende der Achtziger in der Sowjetunion geboren wurde, diese jedoch nur peripher erlebt hat und gleichzeitig im selbstverständlichen Umgang mit dem Internet und dadurch gut informiert aufgewachsen ist. Es gibt eine große Startup Szene und eine E-Citizenship, damit Ausländer*innen dort ihre Unternehmen ansiedeln können. Das Land ist sehr digitalisiert und hat aber gleichzeitig eine sehr patriarchale Gesellschaft. Die Kunst aus dem 20. Jahrhundert, die ich dort im staatlichen Museum gesehen habe, ist allgemein schon sehr schwer. Ich glaube, dass Künstler*innen wie Kris Lemsalu Malone dort sehr wichtig sind, da sie etwas Neues bringen. Man sieht in ihren Arbeiten nicht direkt, dass sie aus Estland kommt, weil sie einen Vorstoß in etwas Neues, Buntes, etwas Lebensbejahendes, Frohes und Energetisches wagt. Deshalb ist sie auch so krass eingeschlagen, weil es eben so abweicht von dem, was bisher in Estland dagewesen ist.

Den Link zum Online Rundgang gibt es hier.

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