Posende Persönlichkeiten Rineke Dijkstra Retrospektive in der Berlinischen Galerie
10. Dezember 2024 • Text von Carolin Kralapp
Zu Hause, tanzend im Club, posierend am Strand oder unmittelbar nach der Geburt: Rineke Dijkstra fängt mit ihrer Kamera jene flüchtigen Momente ein, in denen sich Identität zeigt und wandelt. Die Berlinische Galerie widmet ihr eine Retrospektive mit Werken von 1992 bis heute – eindringliche Porträts von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich zwischen bewusstem Posieren und ungezwungener Haltung, zwischen Ernst, Humor und leiser Unheimlichkeit bewegen.
Was bedeuten Individualität und Identität? Wie drücken sie sich aus? In acht Werkserien und rund 80 Arbeiten zeigt die Berlinische Galerie mit “Still — Moving. Portraits 1992–2024” eine umfassende Retrospektive der niederländischen Foto- und Videokünstlerin Rineke Dijkstra. Seit Jahrzehnten widmet sie sich Lebensphasen junger Menschen – jenen Momenten, in denen sich Identität zeigt und verändert. Dijkstra wird zu einer behutsamen Wegbegleiterin, die ihre Protagonist*innen durch die Linse studiert. Ihre Bilder und Videos, die mithilfe einer 4×5-Zoll-Großformatkamera entstehen, sind klar komponiert, auf das Wesentliche reduziert, und lenken den Blick auf Gestik und Mimik. Die satten Farben und feinen Details in den Werken stechen ebenso in ihrer Reduktion hervor. Obwohl inszeniert, offenbaren die Werke nicht nur Posen, sondern auch die Unsicherheiten ihrer Modelle.
Die Serie “Parks” entstand zwischen 1998 und 2006. Während ihres DAAD-Künstlerinnenprogramms in Berlin fotografierte Rineke Dijkstra Kinder und Jugendliche im Tiergarten. Später folgten Aufnahmen im Amsterdamer Vondel Park und im Parc de la Ciutadella in Barcelona. Die Fotos bestechen durch ein sattes Grün, doch die Parklandschaften wirken seltsam künstlich und arrangiert. Licht und Schatten erzeugen eine unheimliche Atmosphäre. Auch die jungen Protagonist*innen erscheinen merkwürdig entrückt – skulptural, fast wie versteinert.
In der Ausstellung begegnen die Betrachter*innen zwei Menschen, deren Entwicklung sie über Jahre hinweg verfolgen dürfen. Seit 1994 begleitet Rineke Dijkstra die junge Bosnierin Almerisa und fotografiert sie fast alle zwei Jahre. Nach der Flucht vor dem Jugoslawienkrieg landete sie mit ihrer Familie in einem niederländischen Geflüchtetenheim, wo Dijkstra sie im Rahmen eines Kunstprojekts kennenlernte. Die Serie “Almerisa” besteht aus Porträts, die stets in einem schlichten Wohnraum entstanden sind. Der neutrale Hintergrund lenkt nicht ab; der Fokus liegt ganz auf der Protagonistin, die auf jedem Bild auf einem Stuhl sitzt und direkt in die Kamera blickt. So wird Almerisas Wandel sichtbar – von einem schüchternen Mädchen in viel zu kleinen Schuhen zu einer selbstbewussten Frau und Mutter. Dijkstra dokumentiert dabei nicht nur das Heranwachsen eines Menschen, sondern erzählt auch von Themen wie Migration, Anpassung und Identität.
Auch Oliver wird vorgestellt (: Publikum Oliver, Oliver Publikum). Mit 14 Jahren fasste er den Entschluss, der Französischen Fremdenlegion beizutreten. Da der Eintritt erst mit 17 erlaubt ist, begann er in Vorbereitung, seinen Körper intensiv zu trainieren. Dijkstras Fotoserie setzt an dem Tag seiner Aufnahme in die Legion ein. Aus einem unsicheren Teenager mit weichen Gesichtszügen wird innerhalb von drei Jahren ein Soldat mit strengem, fokussiertem Blick. Sein Auftreten wirkt selbstbewusster, doch auch ernst, distanziert, beinahe bitter. Dijkstra hat Olivers Wandel eingefangen und dokumentiert, dass sich eine Entscheidung für ein militärisches Leben sichtbar auswirkt.
Weitere Serien sind die “Beach Portraits”, in denen Jugendliche in Badekleidung am Strand der Niederlande, USA, Polen und Ukraine posieren – alleine oder in Gruppen. Der Hintergrund ist stets gleich: Meer und Himmel, keine weiteren Objekte. Die Protagonist*innen suchen nach natürlichen Haltungen und passenden Positionen für Hände und Füße. So entstehen erfrischend unkonventionelle und ehrliche Momente des Zögerns und der Irritation.
Die “Family Portraits”, teils als Auftragsarbeiten entstanden, wirken dagegen so perfekt inszeniert, dass es beinahe unheimlich ist. Obwohl es Familiendarstellungen sind, sind nur Kinder und Haustiere abgebildet. Der elterliche Einfluss offenbart sich in der Einrichtung, Kleidung und Körpersprache der Kinder. Privilegien spiegeln sich in edlen Parkettböden, schickem Mobiliar und hochwertiger Kleidung wider. Was wohl aus diesen Kindern geworden ist?
Die Serie “New Mothers” zeigt Freundinnen und Bekannte der Künstlerin in den Niederlanden, wenige Stunden oder Tage nach einer Hausgeburt. Nackt mit ihrem Neugeborenen im Arm, stehen sie vor der Kamera. In der Ausstellung heißt es: “Den Körpern der Mütter ist die Anstrengung anzusehen. Sie sind gezeichnet von den Strapazen und strahlen zugleich Glück und Zufriedenheit aus.” Vielleicht liegt es an meiner fehlenden Erfahrung, aber “Glück und Zufriedenheit” habe ich nicht gesehen. Erleichterung, ja – doch für mich dominiert bei den Bildern die körperliche Leistung. Einer Mutter läuft Blut das Bein hinab. Wir können nur erahnen, welche Schmerzen diese Frauen während der Geburt durchgestanden haben.
Kuratorisch spannend ist die Gegenüberstellung der jungen Mütter mit den “Bullfighters” – portugiesischen Stierkämpfern, die allein mit Muskelkraft einen Stier zu Boden ringen. Die Porträts zeigen sie direkt nach dem Kampf: blutverschmiert und dreckig. Hier stehen Frauen, die neues Leben hervorbringen und dabei immense körperliche Strapazen ertragen, neben Männern, die ein unschuldiges Tier niederzwingen – um was zu beweisen? Ihre Stärke? Ihre Überlegenheit?
“The Buzz Club” zeigt Jugendliche, die Dijkstra in Nachtclubs angesprochen hat – an Orten des Ausprobierens und körperlichen Ausdrucks. Diese Phase der Transformation ist geprägt von inneren Konflikten und aufwühlenden Emotionen. Das Leben als Teenager kann sich unfassbar schwer anfühlen. In Fotos und einer Zweikanal-Videoarbeit tauchen wir ein in die niederländische und britische Technoszene der 90er-Jahre: Es wird getanzt, geknutscht, geraucht. Die Arbeit entfaltet eine hypnotische Wirkung. Wer die Berliner Partyszene kennt, erkennt schnell Parallelen zur heutigen Clubkultur. Tanzmoves, Trainingsjacken, bauchfreie Crop-Tops – vieles davon erlebt heute ein Revival, inklusive der Freiheit, sich von einengenden BHs zu verabschieden oder sie gar nicht erst für sich zu entdecken. Spannend ist auch der Blick auf die Mode: Sie verrät viel über die Entstehungszeit der Werke. Modetrends kommen und gehen, und Dijkstras Arbeiten dokumentieren genau diese Zyklen.
Dijkstra begleitet Menschen auf der Suche nach sich selbst und hält diesen Prozess in all seinen Facetten fest. Mit Detailtreue, präziser Bildkomposition und Feingefühl gelingt es ihr, menschliches Verhalten behutsam und würdevoll einzufangen. Ihre Arbeiten bieten einen leichten Zugang und ermöglichen Identifikation. Sie öffnen einen Raum für Reflexion über Individualität und Inszenierung – etwa in sozialen Medien. Wie präsentieren wir uns heute der Welt? Wie wollen wir uns zeigen? Würden wir Fotos, wie Dijkstra sie in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, selbst im Internet veröffentlichen? Wäre das eine authentischere Form der Selbstdarstellung? Oder stellt sich diese Frage vielleicht gar nicht – weil Kinder in Badekleidung oder Jugendliche im Rausch ohnehin nichts im Internet zu suchen haben?
WANN: Die Ausstellung “Still – Moving. Portraits 1992 – 2024” läuft bis zum 10. Februar 2025.
WO: Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124 – 128, 10969 Berlin.