Konkrete Raumpoesie Rafael Domenechs "Notations From Somewhere"
21. Oktober 2021 • Text von Christina-Marie Lümen
Rafael Domenechs Einzelausstellung in der Galerie HUA International bildet einen wörtlichen Ausstellungsparcours zum Mitmachen und Mitdenken: Faltbücher, Material- und Lichtpublikationen erweitern den künstlerischen Werkbegriff. Zitate aus Literatur und der südamerikanischen Moderne eröffnen Wege in entfernte Denkwelten. Vorschläge zu einem geänderten – kollektiven – Dasein inklusive. Unterhaltung auf physischer und intellektueller Ebene!
Empfang in Gelb. Zu Beginn der Ausstellung ein Eckstein, auf welchem ein Buch liegt: “The Medium is the Message”, von Marshall McLuhan. Das Buch ist dreieckig ausgeschnitten und zeigt mit dem Rücken in den Raum. Das Buch, als Konzept, spielt eine zentrale Rolle in dieser Ausstellung. Und sie hat viele Botschaften. Von dem Eckstein aus öffnen sich drei Räume. Betritt man jenen zur Linken öffnet sich ein Korridor aus gelben Paravents. Ihr Material ist halbtransparentes Konstruktionsgewebe. Circa 2,4 Meter hoch leiten die Schirme durch den Raum. Auf ihrer Ober- und Unterseite sind in Holz geschnitzte Worte zu lesen. Zusammen gelesen zitieren das Gedicht “Lo Idéntico”, “das Identische/Gleiche”, von Octavio Paz. Streng genommen somit: Die Worte leiten durch den Raum.
An den Wänden, dem Boden und der Decke sind verschiedene Objekte angebracht. Zwei aufklappbare “Bücher”, “the elliptical hour”, sind in einer Holzstruktur an der Wand befestigt. Bei ihrer Öffnung entfalten sie sich als hängende Bildobjekte. Die Innenseiten zeigen verschiedene Fotomaterial-Collagen. Eine von ihnen kombiniert die Hausfront eines scheinbar luxuriösen Anwesens, das Bild eines schwarzen Müllsacks und verschiedene Referenzen auf die Symbolik von Schildern. Eine glänzend rote Folie ist akribisch auf die Bilder montiert. Aus der Ferne betrachtet ist schwer zu erkennen, ob sich diese farbigen Strukturen im oder auf dem Papier befinden. Wie in allen Werken der Ausstellung spielt Rafael Domenech auch hier mit Oberflächen: Stein, Papier, Holz, Plexiglas, Baustahlgewebe. Das Material ist unprätentiös, doch bewusst gewählt und überaus sorgfältig bearbeitet.
Gegenüber auf dem Boden öffnet sich ein weiteres Buch. X-förmig geschnitten bildet “the beautiful fragment of the fucked up whole” ein plastisch-visuelles Gedicht aus Form, Farbe, vereinzelten Worten und Papierausschnitten. Auf der mittleren Seite stehen auf leuchtend rotem Grund die Worte “flaming waters”. Die Spannung und Lebendigkeit, welche sich durch die gesamte Ausstellung ziehen, ließen sich nicht besser beschreiben. Überhaupt steht ein praktisches Konzept im Mittelpunkt von “Notations form Somewhere”. Viele der Werke sind interaktiv, berührbar oder erfordern eine aktive Rezeption in Form von Umhergehen, Lesen, Öffnen/Schließen. Dabei offenbaren sich sowohl praktische als auch theoretisch-poetische Welten.
“billboard, light publication (signage, poems, interplay)” im angrenzenden Raum präsentiert sich als spielerisch grafische Lichtskulptur. Was eine elegante Kinderzimmerlampe sein könnte, ist nach Aussage des Künstlers eine “Publikation in Licht”. Der Satz “When information brushes against information” ist in das Material geschnitten. Die herausnehmbaren Einzelelemente der Arbeit “bürsten” visuelle Informationen gegeneinander und setzen das Material stets neu zusammen.
Alle Kunstwerke der Ausstellung wurden vor Ort angefertigt oder flach eingeflogen. Vier Tage praktische künstlerische Arbeit, in welcher ein weiteres grundlegendes Element der Praxis von Rafael Domenech durchscheint: Ressourcenbewusstsein. Ein großer Teil der von dem Künstler verwendeten Materialien ist recycelt oder Restmaterial. Das Konstruktionsnetz der Paravents hat der Künstler in China gefunden, die Plexiglasfragmente sind Reste aus kommerziellen Produktionen; recycelte Pappe bildet die Rückseite von “dislocated assemblage for a map of possibilities”. Diese Klimabewusstheit und -freundlichkeit zeugt von der tiefgreifenden Reflexion und Planung in Rafael Domenechs Schaffen. Der Künstler denkt fortlaufend. Im Gespräch tauchen stets neue Gedanken und Bezüge auf: Farbschemata, materielle Assoziationen, Künstler und Theoretiker, die ihn beeinflussen. Helio Oiticica, Lygia Papa und Walther Benjamin sind nur einige von ihnen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Das Aufeinanderfolgen von Gedanken und Werken in der Ausstellung offenbart weitere Ebene: Die Ausstellung ist als eine Markierung von Zeit und Raum konzipiert. Im Öffnen und Schließen der Bücher und dem Lesen der wörtlichen Elemente in den verschiedenen Werken manifestiert sich die Zeit. Der Raum wird durch die Wandschirme und (ent)faltbaren Bilder an den Wänden markiert. “There is no there there” und “All is nowhere”: Diese beiden Zitate von Gertrude Stein beziehungsweise aus dem Gedicht “Spaces” von Octavio Paz verweisen auf Grundgedanken Rafael Domenechs zu “Notations From Somewhere”: Wo existieren wir, und wie? Laut der Ausstellung in einem poetischen, spielerischen Meta-Raum, der mit Kunst und Gedanken gefüllt ist.
“maleza de líneas”, eine weitere Plexiglas-Publikation in Licht, oder der Einfachheit halber: eine Lichtskulptur, trägt die Worte: “Maleza de lineas. Always future”, übersetzt: “Dickicht der Linien. Immer Zukunft.” Bezogen auf die Werke in der Ausstellung ließe sich dies folgendermaßen interpretieren: Alle Linien – des Denkens, der Geschichte, der Schöpfung – vereinen sich zur Zukunft. Durch ihr Zusammenlaufen in der Kunst wird jene selbst zur Zukunft.
“the deceptive mobility of an excess of things of disparate origins” ist eine kleine Skulptur, welche aus einem grauen Stein besteht, aus dessen Mitte rote Plexiglasbuchstaben herausragen. “Die täuschende Mobilität eines Überflusses an Dingen mit verschiedener Herkunft”: Mit Blick auf diesen Titel kann man eine weitere #Linie zu den Werken der Ausstellung ziehen, welche einmal mehr auf ihr höchst unterschiedliches Material verweist. Aber die Mobilität der Werke ist nicht trügerisch. Sie ist lebendig. Die Verspieltheit und Leichtigkeit in allen Werken bildet eine willkommenen Gegenposition zu vermeintlich tiefgründigen Darstellungen in der zeitgenössischen Kunst. Und die Verspieltheit ist nicht oberflächlich, im Gegenteil. Es liegt ein tiefes Nachdenken in den Werken und ihrer gemeinsamen Präsentation. Gedanken, der sich in Form, Farbe und Material manifestieren.
Rafael Domenech sieht sich selbst als Buchmacher. Ohne Zweifel tragen die Werke eine starkes grafische, im Sinne einer ausgewogenen Ästhetik, Komponente. Eine andere Betrachtungsweise sowohl der Arbeiten als auch der Person des Künstlers wäre kreatives Genie.
WANN: Die Ausstellung “Notations From Somewhere” läuft noch bis Samstag, den 13. November.
WO: HUA International, Potsdamer Straße 81B, 10785 Berlin.