Irritierend unzweckmäßig
Phyllida Barlow im Haus der Kunst

5. April 2021 • Text von

Ein Überschwang aus Farben, Formen und Texturen. Die britische Bildhauerin Phyllida Barlow wurde lange von der Kunstwelt übersehen. Nun zeigt das Haus der Kunst unter dem Titel „frontier“ eine großartige Retrospektive ihrer monumentalen und gleichzeitig fragilen Installationen aus mehr als fünf Jahrzehnten.

Man sieht Arbeiten von Phyllida Barlow im Haus der Kunst in München.
Phyllida Barlow: frontier, Installationsansicht, Haus der Kunst, 2021, Foto: Maximilian Geuter.

Zunächst ist man überfordert. Vielleicht ist man es einfach nicht mehr gewohnt, großformatige Kunst nicht auf einem kleinen Screen zu sehen, sondern in weiträumigen Hallen zu erfahren. Jedenfalls beeindruckt der kühne und gigantische Maßstab von Phyllida Barlows Installationen im Haus der Kunst auf den ersten Blick. Anstatt sich in die architektonische Umgebung dieser Institution einzufügen, wie es Skulpturen oft tun, überwältigt sie diese. Ihre Arbeiten scheinen fast zu groß für diese doch großen Räume. Ihre Arbeiten haben nichts Schlichtes oder Glattes an sich, sie sind voll Ecken und Kanten, Elemente scheinen zu wackeln oder drohen zu fallen. Man sieht Balkone, auf denen niemand steht, Markisen, die niemanden beschatten, Bühnen und Türme, die niemand je besteigen wird. Alles wirkt überdimensioniert und gleichzeitig etwas unbeholfen, groß und doch zerbrechlich, komponiert aber ohne ersichtlichen Zweck.

Man sieht Arbeiten von Phyllida Barlow im Haus der Kunst in München.
Phyllida Barlow: frontier, Installationsansicht, Haus der Kunst, 2021, Foto: Maximilian Geuter.

Barlow experimentiert eher, als dass sie im traditionellen Sinne Skulpturen konstruiert. Unter Verwendung der ihr typischen Materialien und Kompositionstechniken hat sie in ihrer fünfzigjährigen Karriere den Begriff der Skulptur unentwegt erweitert und dabei eine einzigartige persönliche Formensprache entwickelt. Dabei verbindet sie eine gestische Dramatik mit einer gewissenhaften Präzision, schichtet Lagen über Lagen, chaotisch und doch mit System. Die britische Künstlerin hat eine für die Kunstwelt untypische Karriere. Geboren 1944 in Newcastle upon Tyne stellte sie zwar bereits 1965 im Institute of Contemporary Arts in London aus, wurde in den Jahrzehnten danach jedoch von Markt, Kritik und Institutionen wenig beachtet. Von einem breiteren Publikum wahrgenommen, gesammelt und geschätzt wird ihre Arbeit erst seit etwas mehr als zehn Jahren. Dazwischen liegen fünf Jahrzehnte der relativen Unsichtbarkeit in der Kunstwelt. Die Geschichte ihrer Karriere und “Wiederentdeckung” zeichnet ein interessantes Bild der Strukturen und Mechanismen, die Wert und Wertschätzung im System Kunst ermöglichen und verhindern können.

Man sieht zwei Arbeiten von Phyllida Barlow im Haus der Kunst in München.
Phyllida Barlow: frontier, Installationsansicht, Haus der Kunst, 2021, Foto: Maximilian Geuter.

Einige der großformatigen Skulpturen wurden speziell für die Ausstellung im Haus der Kunst geschaffen, andere wurden überarbeitet oder sind neue Versionen von früheren Arbeiten, die nicht mehr existieren. Barlows Werke wirken enorm und sind doch gleichzeitig flexibel und modulierbar. Manche von Barlows Skulpturen bestehen aus dem Material früherer Arbeiten. So hat jede existierende Skulptur das Potenzial, in einem zukünftigen Werk wiederverwertet und aufgenommen zu werden. So entstehen imposante Konstruktionen aus bunt bemalten industriellen und minderwertigen Materialien, die sie wild kombiniert. Spielerisch testet sie die Extreme von Masse, Volumen und Material aus, sie fügt sich dabei nicht in die architektonischen Gegebenheiten des Ausstellungsraums ein, sondern bringt auch diesen an seine Grenzen. Ihre raumgreifenden Arbeiten sind dabei die Produkte von offenen Materialprozessen.

Man sieht eine Arbeit von Phyllida Barlow im Haus der Kunst in München.
Phyllida Barlow: frontier, Installationsansicht, Haus der Kunst, 2021, Foto: Maximilian Geuter.

Barlow hat die Haltung einer klassischen Bildhauerin. Im Zentrum steht die Skulptur, ihre abstrakte Beschaffenheit und die sich daraus ergebenden schwebenden Unklarheiten. Sie verwendet dabei jedoch Materialen, Formen und Techniken, die mit der klassischen Vorstellung von Bildhauerei brechen. Ihr Umgang mit Material und Raum ist lustvoll, spielerisch und auf konsequente Weise provisorisch. Phyllida Barlow lässt Bruchstellen offen, ihre Arbeiten sind roh und scheinen unfertig. Aber genau aus diesem Schwebezustand ziehen sie ihre Kraft und Spannung. Diese Skulpturen wollen nicht gefallen, sie müssen keinen Zweck erfüllen sondern dürfen ein eigentümliches Eigenleben entwickeln und sich im Raum ausdehnen.

WANN: Noch zu sehen bis zum 25. Juli, abhängig von den geltenden Regelungen.
WO: Haus der Kunst, Prinzregentenstrasse 1, 80538 München.

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