Durch die Stürme atmen Pallavi Paul im Martin-Gropius-Bau
12. Juni 2024 • Text von Hannah Schraven
Pallavi Paul hat einen Friedhof aufgebaut. Wild krabbelnde Insekten, Blüten oder ein Greifvogel huschen als Projektionen über die Oberflächen der Grabsteine. So rücken Leben und Tod im Martin-Gropius-Bau eng aneinander. Mit Gespür für subtile Überlappungen von Wirklichkeit nähert sich Paul der Komplexität der Welt.
Als Olivia Laing 2015 ihre Frieze-Kolumne zu schreiben begann, gab sie ihr den Titel „Funny Weather“. Eine Anspielung auf das politische Wetter, das immer seltsamer wurde. Ein Jahr später wurde Trump zum Präsidenten gewählt und wie viel merkwürdiger ist das Wetter inzwischen geworden. Wann immer ich mir Kunst anschaue, drängt sich mir deshalb mit neuer Vehemenz die Frage auf, was diese in Zeiten der Polykrise bewirken kann.
Innerhalb der letzten Jahre kamen immer wieder neue Antworten zum Vorschein, oder eher: Fragmente von Antworten, sichtbar werdend für den Bruchteil eines Augenblicks in einzelnen Arbeiten. Pallavi Pauls Ausstellung „How Love Moves“ im Obergeschoss des Martin-Gropius-Baus fügt ein weiteres Puzzleteil hinzu.
Der Raum ist abgedunkelt, aus den Ecken kommt ein tiefblaues, verschlingendes Licht. Pallavi Paul hat einen Friedhof aufgebaut, über die unebene Oberfläche der Grabsteine huschen Projektionen: wild krabbelnde Insekten, Blüten, ein Greifvogel, der über die Skulpturen erhaben wacht. Die Aufnahmen stammen vom Delhi Gate Cemetery, einem Friedhof in Neu-Delhi.
Schon hier stoßen zwei unterschiedliche Konzepte aufeinander, nähert Pallavi Paul vermeintlich Gegensätzliches einander an: der Friedhof als ein Tor des Todes und der Trauer, aber auch als Ort der Bewegung, des organischen und animalischen Lebens. Dieselbe Doppeldeutigkeit wird wieder aufgegriffen, wenn die Künstlerin in dem titelgebenden Film „How Love Moves“ Totengräbern in Neu-Delhi bei ihrer täglichen Arbeit folgt. Die Sequenzen, in denen der Friedhof als Ort der Ruhe und des Erinnerns auftaucht, werden durchbrochen von Archivaufnahmen aus der Pandemie: Menschen in Schutzanzügen shuffeln zu Techno, Leichen werden aus Platzmangel auf der Straße verbrannt.
In Pallavi Pauls Experimentalfilm “Twilight’s Envelope / Und in der Dämmerung Hülle”setzt sich dieser Modus Operandi fort, wenn verschiedene narrative Stränge zu einem filmischen Essay über Erinnern und Gewalt verwoben werden. Im Mittelpunkt steht wieder ein Ort, die Heilanstalten Hohenlychen, ein ehemaliges Tuberkulose-Sanatorium. Dort führten die Nazis ab 1942 brutale Versuche an KZ-Häftlingen durch, um ein geeignetes Wundheilmittel für die verletzten Wehrmachtsoldaten zu finden.
Unterlegt mit den Tagebucheinträgen des Fabrikarbeiters und Tuberkulosepatienten Moritz Theodor William Bromme bewegt sich die Kamera mal durch die verfallenen Ruinen, ruht ein anderes Mal auf den Gesichtern der Nazis beim Erklären ihrer verbrecherischen Experimente. Aus dem Hintergrund dringt eine Frauenstimme, die den Betrachtenden Schlaflieder singt. Pallavi Paul wirkt hier als Archäologin, die unterschiedliche Schichten der Vergangenheit behutsam freilegt und auf deren subtile Überlappungen hinweist.
Durch Pallavi Pauls Arbeiten scheint ein spezifisches Denken hindurch, das in meinen Augen insbesondere in der Kunst zu finden ist. Es ist ein Denken, das sich von unserer gewohnt rational-linearen Art, die Wirklichkeit zu erfassen und uns in ihr zu orientieren, abhebt. Es breitet sich nicht gradlinig, sondern rhizomatisch aus und schöpft dabei aus den unterschiedlichsten Quellen: Geschichten und Motive, die auf den ersten Blick disparat erscheinen, werden kühn miteinander verknüpft und so auf andere Weise erzähl- und erfahrbar. Es ist kein analytischer Blick auf die Wirklichkeit, sondern ein feines Sezieren, das zwischen Denken und Fühlen changiert und sich der Welt in all ihrer Komplexität anzunehmen versucht.
In einer derart vernetzten Gegenwart wie der unseren, in der das Wetter im buchstäblichen wie im übertragenden Sinne immer furioser wird, braucht es ein solches grenzüberschreitendes künstlerisches Denken. Pallavi Paul hat ihre Ausstellung dem universalen Motiv des Atems untergeordnet. “Atmen bedeutet, sich an unsere individuelle und gemeinsame Vergangenheit zu erinnern und unseren Pakt mit der Zukunft zu erneuern”, so die Künstlerin. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft – bei Pallavi Paul sind das keine feststehenden Kategorien, sondern ineinander verwobene Prozesse, die wie der Atem alles um uns herum durchdringen.
WANN: Die Ausstellung “How Love Moves” von Pallavi Paul läuft bis Samstag, den 27. Juli.
WO: Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin.
Außerdem gerade im Martin-Gropius-Bau zu sehen: die Ausstellung “Circles of Light” von Nancy Holt.