Landschaft mitdenken Orobie Biennale in Bergamo
10. Oktober 2025 • Text von Quirin Brunnmeier
Mit dem fünften und letzten Zyklus von “Thinking Like a Mountain” beendet das Museum GAMeC in Bergamo sein ambitioniertes Langzeitprojekt. Die Orobie Biennale verwebt Kunst, Ökologie und Gemeinschaft zu einem vielstimmigen Nachdenken über eine künstlerische Gegenwart, die auch außerhalb der Institutionen blüht und die lokale Communities mit einbezieht.

Sanft weht die frische Bergluft durch die offenen Seiten einer Scheune in Sottochiesa, einem kleinen Ort im Val Taleggio, in der Nähe von Bergamo in Norditalien. Bedächtig sitzt eine übergroße, weibliche Figur im weichen Heu, die Arme ausgestreckt, zwischen Umarmung und Erschöpfung. Auf die Skulptur aus rötlichem Ton hat die Künstlerin Gaia Fugazza weitere kleine Figuren platziert, wie Kinder oder Schösslinge. Im Titel “Mother of Millions” bezieht sich Fugazza auf die Pflanzenart Kalanchoe daigremontiana, die sich ungeschlechtlich vermehrt – ein non-binäres Lebewesen, das zum Sinnbild für Mütterlichkeit, Fürsorge und Schöpfung wird. Im Kontext der ruralen Scheune entwickelt die Arbeit eine kräftige Ausstrahlung, den Betrachter*innen bietet sie einen ruhigen Moment der Reflexion. Leise hört man Kühe muhen, draußen strahlt wieder die gleißende Sonne über den Bergen.
Die Skulptur und ihre Präsentation sind Teil des fünften und letzten Zyklus der Orobie Biennale. Das von Kurator Lorenzo Giusti für die Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea initiierte Programm will seit letztem Jahr die zeitgenössische Kunst aus den Museen herausholen und mit den Gemeinden, Landschaften und Infrastrukturen der angrenzenden Berge in Kontakt bringen. Der Titel “Thinking Like a Mountain” – denken wie ein Berg – bezieht sich auf Aldo Leopold, der als einer der Gründer der Naturschutzbewegung gilt.
Die Biennale bedient aber keine krude Naturromantik, sondern versteht die Berglandschaften als Resonanzraum, in dem Reflexionen und Gespräche über das Anthropozän ermöglicht und die Verwebungen zwischen Natur, Kunst und Gesellschaft erkundet werden. Für die Zyklen wurden Künstler*innen eingeladen, sich mit Fragen der Nachhaltigkeit und Gemeinschaft zu beschäftigen. Zentral ist hierfür die Öffnung des Museums und das Einbinden der Öffentlichkeit, insbesondere der lokalen Gemeinschaften. Denn neben den klimatischen Veränderungen ist die Region auch von demographischen Veränderungen in Form von Überalterung betroffen.

Dass die Einbeziehung der lokalen Bewohner tatsächlich mehr als nur Behauptung ist, konnte man bei der Eröffnung von Bianca Bondis ortsspezifischer Installation in der entweihten Kirche von Santa Maria di Gerosa erfahren. Gefühlt das gesamte Dorf, von den Kindern bis zu den Würdenträger*innen, fand zusammen und feierte bei lokalem Käse und Wein, einige von ihnen hatten selbst am Kunstwerk mitgewirkt. In der Mitte des Kirchenschiffs hat die südafrikanisch-italienische Künstlerin Bondi ein Skulpturenensemble aus sieben lebensgroßen Figuren platziert, die aus Gips nach den Körpern lokaler Freiwilliger geformt wurden. Die Figuren haben keine Gesichter, stattdessen scheinen Blumensträuße, Korallen und kristallisierte organische Materie aus ihren Hälsen zu wachsen. Im Kreis positioniert haben sie eine choreografierte Dynamik, die den sakralen Charakter des Gebäudes spiegelt.
Einen anderen Umgang mit dem vorgefundenen Raum hat der deutsche Künstler Julius von Bismarck gewählt, der in einer Mine im alten Bergbaurevier des Brembana-Tals eines seiner Landscape Paintings realisiert hat. Er nutzt einen Kniff der illusionistischen Malerei und dreht an den Wänden des Bergwerks die Bildperspektive um. Statt Dreidimensionalität zu simulieren, löst er durch geometrische Linien das reale Volumen auf und transformiert es in eine ebene Fläche. Der schon in sich unwirkliche und unwirtliche Ort verliert so seine Konturen und verschwimmt gänzlich.

Neben diesen Projekten werden noch andere Orte in der Region bespielt. Abraham Cruzvillegas hat in Dalmine eine soziale und partizipative Skulptur aus Abfallmaterialien und Alltagsobjekten errichtet, die bei der Eröffnung mit einer Performance aktiviert wurde. Die Künstlerin Agnese Galiottos hat an einer Hauswand in Almenno San Bartolomeo ein Wandfresko geschaffen, das den Flug von Zugvögeln über den Berg Albenza aufgreift. In seinem künstlerisch-partizipativen Projekt widmet sich Asunción Molinos Gordos in Zusammenarbeit mit dem Botanischen Garten der Geschichte und den Geschichten von Pflanzensamen. In Bergamo wird auch ein Gemälde von Pedro Vaz wird gezeigt, das von der Berglandschaft der Alta Via delle Orobie Bergamasche inspiriert ist.
Im den Räumen des Musuem GAMeC selbst sind im Rahmen der Biennale zwei Ausstellungen zu sehen. Das Kollektiv Atelier dell’Errore, das aus der Arbeit mit neurodivergenten Jugendlichen hervorgegangen ist, wurde uesprünglich 2002 vom in Bergamo geborenen Künstler Luca Santiago Mora gegründet. Es entwickelte sich zu einer Gruppe, die sich professionell der Kunst und Performance-Praxis widmet. Gezeigt werden wild anmutende Bilder und Eingriffe in die Architektur, beides gekennzeichnet durch expressive Farben und Materialien, dynamisch und poetisch.
Zudem sind im Museum Arbeiten von Maurizio Cattelan zu sehen. Auch seine Ausstellung “Seasons” ist – passend zum Konzept der Biennale – nicht auf das Museum beschränkt, der in Norditalien geborene Künstler bespielt unterschiedliche Orte in der Stadt. Eine realistische Kinderfigur, die er auf den Schultern einer staatstragenden Bronzeskulptur platziert hat, führte schon zu mehreren Anrufen bei der Feuerwehr

Das Ausstellungsprojekt der Orobie Biennale bringt internationale und lokale Künstler*innen mit den Menschen vor Ort zusammen. Der Fokus liegt hierbei auf einer kontextbewussten Kunstproduktion, die das Museum öffnet und die Kunst und die Künstler*innen mit der Umgebung in eine Beziehung setzt. Auch eine Reflexion über die Rolle des Museums als Institution der Vermittlung von Kunst steht im Fokus.
Kurator Giusti und die GAMeC haben mit “Thinking Like a Mountain” ein Ausstellungsmodell entworfen, das weniger auf institutionelle Repräsentation setzt, vielmehr wird die gesamte Region zu einem Diskursraum, in dem Prozesse des Austausches stattfinden können. Wie schon bei der letzten Biennale Gherdëina, für die Giusti verantwortlich war, sind die Natur und die Kulturlandschaft nicht lediglich eine Bühne für die Kunst, vielmehr werden sie zu integralen Bestandteilen der gezeigten Kunst. In Bergamo ist die Institution nicht nur Gastgeber, sondern aktiver Teil eines diversen Ökosystems. Ob und wie nachhaltig die Wirkung für den Diskurs in der Region ist, sei mal dahingestellt.
WANN: Der fünfte und letzte Zyklus der Ausstellung “Thinking Like a Mountain” ist noch bis Freitag, den 16. Januar zu sehen.
WO: GAMeC – Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea di Bergamo, Via San Tomaso 53, 24121 Bergamo, IT und an unterschiedlichen Orten in der Provinz Bergamo.
Danke an GAMeC – Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea für die Übernahme der Reisekosten.