Nord, Ost, Süd, West.
Oder: Mit dem Fahrrad durch Berlin

29. März 2021 • Text von

Kunst im Kiez. Wer derzeit ungerne den eigenen Bezirk verlässt, oder die öffentlichen Verkehrsmittel meiden möchte, muss nicht verzweifeln: Die reiche Berliner Galerie-Szene bietet auch gegenwärtig qualitativ hochwertige Ausstellungen unterschiedlichster Art. Blue Chip bis Newcomer, vor der Haustür oder eine wunderbare Fahrradtour entfernt.

Das Bild zeigt eine Ausstellungsansicht der Ausstellung "Change Blindness" von Billie Clarken in der Galerie Åplus.
Billie Clarken, “Change Blindness”, Ausstellungsansicht, Åplus, 2021. Courtesy of the artist and Åplus.

Kühlschranktüren als analoge Vorversion von Instagram. Dieser Idee widmet sich Billie Clarken in ihrer Einzelausstellung “Change Blindness” bei Åplus. Sechs geschmückte “refrigerator doors” beheimaten den Ausstellungsraum. Fotos, Buttons, Zeichnungen, Buchstaben- und Souvenir-Magneten. Für die Generation Y-Betrachter*innen erweist sich der Besuch als Zeitreise zurück in die Kindheit. Die Künstlerin berichtet vom Stalking Potenzial der früheren Kühlschranktüren im familiären Haushalt. Bevor die Küche zu einem durchdesignten, sterilen Vorzeigeort wurde. 

Was auf den ersten Blick nicht auffällt: Die Türen sind in Teilen Attrappen. Die darauf befindlichen Gegenstände und Bilder sind aufgedruckt, lediglich einzelne Objekte in 3D vorhanden. Der Titel “Change Blindness” spielt darauf an. Der Ausdruck beschreibt die Unfähigkeit, Veränderungen in einer visuellen Anordnung wahrzunehmen auf Grund von Verschleierung oder Unterbrechung im Sehakt. Eine Anspielung auf die berauschte Betrachtung fremder Kühlschranktüren in vergangenen Partynächten? Oder ein subtiler Hinweis auf die allzu automatische Alltagswahrnehmung, in der scheinbar alles unmittelbar “for granted” genommen wird, ohne eine kritische Hinterfragung. Die Kühlschranktüren lehren eines Besseren.

Für Billie Clarken besitzen die Türen sowohl einen ideellen wie Objekt-basierten Wert. Die ausgestellten Türen besitzen scheinbar einen jeweils eigenen Charakter. Die Künstlerin spricht von “my college door”, “my Mum’s door”, “my current-me door”. Als Objekt-Gedichte oder Memo Boards bilden sie Vorstufen heutiger digitaler Bilddatenbanken oder Timelines. Als Objekte vermischen sie das Alltägliche – den Kühlschrank, die Küche – mit Tagträumen, Fiktion und Erinnerung. Hollywood- und Marvel-Helden treffen auf Familienbilder und Urlaubssouvenirs. Diese umfassende Lesart öffnet zahlreiche Denk- und Betrachtungsansätze. Und bildet daher nicht zuletzt in Zeiten beschränkter Bewegungsfreiheit eine willkommene Bewusstseinserweiterung.

WANN: Die Ausstellung “Change Blindness” läuft noch bis Samstag, den 10. April.
WO: Āplus, Stromstraße 38, 10551 Berlin.

Das Bild zeigt das Kunstwerk "Back to Kansas" des amerikanischen Künstlers Spencer Finch.
Spencer Finch, “Back to Kansas”, 2015. Courtesy of the artist and Galerie Nordenhake, Berlin, Stockholm, Mexico City.

Farbe, Farbe, Farbe. In seiner Ausstellung “The Enigma of Color” in der Galerie Nordenhake erörtert Spencer Finch das Phänomen Farbe und überzeugt durch seinen wissenschaftlich-poetischen Ansatz. Bei Betreten der Galerieräume empfangen die Betrachter*innen drei quadratische Farbflächen – nein, nicht Leinwände, wie im ersten Moment angenommen werden könnte; dies war für Finch, der zuvor nicht im Medium der Malerei gearbeitet hat, zu nah am klassischen Gemälde. Es handelt sich um Sperrholzplatten mit Acryl. Die braune Farbe der Fronten scheint zunächst einheitlich; doch auch hier ist ein zweiter Blick, und etwas Abstand, gefragt: Die Farbtöne unterscheiden sich in subtiler, und doch wahrnehmbarer Art und Weise. Die Seiten der Arbeiten sind jeweils Gelb und Violet, Rot und Grün, und Orange und Blau. Hierin liegt der Schlüssel zu den unterschiedlichen Brauntönen: sie sind aus den jeweiligen Farbwerten der Bildseiten gemischt. Die Arbeit basiert auf zwei Ausgangspunkten: Ludwig Wittgensteins Betrachtungen zur Farbe; und der Unterrepräsentation der Farbe Braun in der Kunst. Das Werk offenbart sich damit als ein Beitrag zu einer Ästhetik des Braun.

Die Arbeit “Autumn Haiku (sunset through pear tree)” basiert auf der Lichtwahrnehmung der Sonne durch einen Birnbaum im Herbst. Die drei senkrechten Neonröhren sind durch unterschiedliche Farbfilter unterteilt, deren Farbwerte auf Messungen des Künstlers während der zuvor beschriebenen Situation beruhen. Und tatsächlich: trotz der abstrakten, nahezu sterilen Form der Lichtröhren vermittelt die Arbeit eine unmittelbare Ruhe und Poesie, die dem Naturerlebnis auf sonderbare Weise erstaunlich nahekommt. 

Ein ähnliches Erlebnis von Abstraktion, Farbe und Poesie bildet die Arbeit “Color Notes (Winter)”. 25 kleinformatige, quadratische Aquarellzeichnungen sind in einer fünf mal fünf-Anordnung an der Wand montiert. Jede Zeichnung basiert auf drei Farben, welche in abstrakten Formen miteinander verbunden sind. Unter den Zeichnungen findet sich jeweils eine feine Bleistift-Unterschrift: “pear/mug/cookie”, “pillow/dog/pillow”, “partylight/partylight/partylight”. Die Farbgesten entstammen realen Motiven, welche der Künstler in einer Art visuellem Tagebuch auf Papier festgehalten hat. Erhöhung durch Reduktion beschreibt die künstlerische Vorgehensweise.

Die Ausstellung umfasst weitere Arbeiten und Medien, welche hier auf Grund der Wortanzahl ausgenommen bleiben.  Trotz ihrer begrenzten Objektanzahl bildet die Ausstellung so ein Pars pro Toto für das Schaffen Finchs. Zum Abschluss des Ausstellungsbesuchs lautet das Fazit folgendermaßen: Wunder-bar. Im wörtlichen wie gebräuchlichen Sinne.

WANN: Die Ausstellung “The Enigma of Color” läuft noch bis Samstag, den 24. April.
WO: Galerie Nordenhake, Lindenstraße 39, 10969 Berlin.

Das Bild zeigt eine Ausstellungsansicht der Ausstellung "Oswald Oberhuber: Permanente Veränderung" in der Galerie KOW Berlin.
Oswald Oberhuber, “Permanente Veränderung”, Ausstellungsansicht, KOW Berlin, 2021. Courtesy of KOW Berlin.

Ein Tannenbaum; “Dr. Faust”; Zahlen und Multiplikationen; Leinwände; Pappkartons; Eisen und Beton; Streichhölzer; Batikstoff; und Vögel. Wer einen Zusammenhang in dieses Konglomerat von Elementen bringen möchte, der begebe sich in die Ausstellung Oswald Oberhubers in der Galerie KOW. “Permanente Veränderung” zeigt Arbeiten des österreichischen Künstlers aus den 1950er Jahren bis in die späten 2010er. Obgleich der Künstler dieses Datum leider nicht mehr selbst erlebt, zeigt die Galerie KOW anlässlich des diesjährigen 90. Geburtstages des Künstlers eine Überblicksschau und hebt die Relevanz seines künstlerischen Schaffens für heutige Debatten hervor.

Den Ausgangspunkt dabei bildet die vergleichsweise simple Feststellung: Alles verändert sich. Mit diesem Ansatz hinterfragte der Künstler jegliche gesellschaftlichen und künstlerischen Prinzipien und erfand sich und sein Werk stets neu. Die Vielzahl an Materialien und Formen in der Ausstellung bringt dies eindrücklich zum Ausdruck. Nahezu analytische Gemälde treffen auf Assemblagen aus Holz, Pappe und Stoff und filigrane Blei- und Buntstiftzeichnungen. “Wie es nicht sein soll. Aber es könnte so sein” steht auf einem der Objekte. Dieser Ansatz bildet ein zuverlässiges Vehikel auch für heutige Fragestellungen. Die Inschrift “Wie ein Rausch” kann als zeitlose Anleitung für ein Streben nach vollkommener Erfahrung gedeutet werden.

Im Nebenraum zeigt die Präsentation “Joint Ventures: Collier Schorr – Day for Night (1992/2021)” präsentiert von Modern Art, London, eine frühe queere Perspektive der Fotografie. Ein geschminkter Junge im Teenage-Alter posiert in einer gräsernen Sommerlandschaft. Warum er dies tut, wird in den Bildern nicht klar. Der Junge fühlt sich offensichtlich unwohl, zumindest ist seine Ausstrahlung durch die Unsicherheit der frühen Sexualität geprägt. Die Bilder besitzen so eine zuweilen unangenehme Intimität. Und erstaunen doch durch ihre Entrücktheit, Unmittelbarkeit und Existenz als Zeitzeugnis.

WANN: Beide Ausstellungen laufen noch bis Sonntag, den 18. April.
WO: KOW Berlin, Lindenstraße 39, 10969 Berlin.

Das Bild zeigt das Kunstwerk "Midday" des Künstlers Antonio Ballester Moreno.
Antonio Ballester Moreno, “Midday”, 2021. Courtesy of the artist and Tanya Leighton, Photography: Gunter Lepkowski.

Von Außen grüßt der Sternenhimmel. Und innen entfaltet sich der ganze Tag. Die Ausstellung “Day” des spanischen Künstlers Antonio Ballester Moreno in der Galerie Tanya Leighton exerziert in sieben großformatigen Gemälden den Sonnenlauf im Tagesrhythmus. Die einfache Formensprache – Figuren wie Kreis und Rechteck, große, einheitliche Farbfelder, ein begrenztes Farbspektrum – fungiert hierbei als ein Prisma für das Wesentliche. Die reduktiven Arbeiten besitzen eine außergewöhnliche Konzentration und Spannung.

Ein entscheidender Aspekt in dieser Wirkung ist die Farbe. In lediglich sieben Farben – Schwarz, Natur, Gelb, Grün, Blau, Hautfarben und Rot – erzeugt der Künstler die verschiedenen Sonnenstadien, von “Midday” zur “Half Sun” zur “Night”. Die monochrom rote Leinwand kann hierbei sowohl als Morgen- wie Abenddämmerung gedeutet werden. Die Interpretation liegt – wörtlich – im Auge des Betrachters/ der Betrachterin. Die Bilder sind auf Jute gemalt; die raue Struktur dieses Stoffes verweist erneut auf den Aspekt des Wesentlichen und erweitert dieses Prinzip so auf eine materielle Ebene. Material und Wirkung verschmelzen; die Werke erstaunen durch ihre Unmittelbarkeit. Und bringen die mediterrane Sonne in die Kurfürstenstraße.

WANN: Die Ausstellung “Day” läuft noch bis Samstag, den 17. April. 
WO: Tanya Leighton, Kurfürstenstraße 156 & 24/25, 10785 Berlin

Das Bild zeigt zwei Kunstwerke des Künstlers Jack Sommerville aus der Ausstellung "Rain, that's all" in der Galerie Stallmann in Berlin.
Jack Sommerville, “Rain, that’s all”, Ausstellungsansicht, Stallmann, 2021. Courtesy of the artist and Stallmann, Berlin.

Nach Sonne kommt Regen. Oder vice versa. Nun ein Gedankenexperiment: Wie wäre es mit Happy Rain? Dieser findet sich in Jack Sommervilles Ausstellung “Rain, that’s all” in der Galerie Stallmann. Drei großformatige Gemälde präsentieren die Variationen eines verhältnismäßig einfachen Motivs: Eine Wolke, aus welcher Regen zu Boden fällt. Die Wolken sind in klarem Weiß gehalten, der Regen in starkem Blau. Ein willkommener Gegensatz zu dem üblichen Grau-in-Grau.

Ein wesentlicher Aspekt in der Bildwirkung ist das Material der Werke: Die Bildfläche besteht jeweils aus einem zusammengenähten Rand aus blickdurchlässiger Jute und einem rechteckigen Zentrum aus dickem Samt; die Farben des Letzteren sind Dunkelrot, Ocker und Orange. Die Samtflächen stammen von alten Vorhängen, welche der Künstler mit der Jute zu einem Maluntergrund zusammengefügt hat. Auf den durch die Jute sichtbaren Rahmen gespannt, wirken die Wände wie Requisiten eines Theaterstücks, eine Referenz auf die Biografie des Künstlers. Regenwolken zum Unterstellen. Oder: Leinwände zum Eintauchen. Unmittelbarkeit als Produkt von Größe und intensiver Farbgebung.

An der linken Galeriewand finden sich zwei weitere Arbeiten, “Flora” und “Wind-Caller”. Auch diese Werke sind auf Samt gemalt, die Bildsprache ebenso zurückgenommen: Ein Textzug “Flora” und fallende Blütenblätter; und ein zum Horn geformter Bilduntergrund mit feinen Goldelementen. Nebeneinander präsentiert verweisen die Arbeiten unmittelbar auf Botticelli’s “Primavera”, wo die Nymphe Chloris sich durch den Westwind Zephyr in die Göttin Flora verwandelt.

Jack Sommerville sucht eine wahrhaftige, bescheidene Kunst. Der Spiel-Charakter und die Unmittelbarkeit der Werke zeugen hiervon. Die literarischen und mythologischen Bezüge offenbaren eine künstlerische Ernsthaftigkeit, welche partout nicht als solche verstanden werden möchte. “Rain, that’s all.”

WANN: Die Ausstellung “Rain, that’s all” läuft noch bis Montag, den 3. Mai.
WO: Stallmann, Schillerstraße 70, 10627 Berlin. 

Ein weiterer Schatz in Charlottenburg: “From Almora to Amrum” in der Efremidis Gallery.

In Mitte unterwegs? In der Linienstraße bieten die ifa-Galerie und der Galerie Neu weiteren Kunstgenuss.

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