Die Göttin im Hinterhof Die Noah Davis Retrospektive im Minsk Kunsthaus Potsdam
31. Oktober 2024 • Text von Lara Brörken
Wenn das Wort “magisch” überdurchschnittlich oft fällt, können Arbeiten von Noah Davis nicht weit entfernt sein. Andere Adjektive zu finden, ist nicht leicht. Dies ist ein Versuch. Doch – spoiler! – ganz umgehen lässt sich die Magie nicht. Woher kommt sie? Mit der bisher größten internationalen Retrospektive im Potsdamer Kunsthaus das Minsk ist Noah Davis’ Werk umfassend erfahrbar. Sein Oeuvre ist eine einzige Reflexion der amerikanischen Gesellschaft, ein magischer Wachrüttler, der dieser Tage besonders gelegen kommt.

Überall Bauzäune, verworrenste Straßenführung, Schienen kreuz und quer, Magie vermutet man hier im Radius des Potsdamer Hauptbahnhofs nicht, doch sie ist da. Verborgen hinter den Mauern des ehemaligen DDR-Terrassenrestaurants Minsk. Das kantige Gebäude scheint sich aus den Sandbergen der Baustellen heraus zu entwickeln, ein fließender Übergang von Unordnung zur Ordnung. Das Kunst-Ufo ist gelandet – dank der finanziellen Unterstützung des Unternehmers und Sammlers Hasso Plattner. Hier im Minsk ist aktuell Noah Davis’ bislang größte internationale institutionelle Retrospektive zu sehen. Sie gewährt umfassenden Einblick in die Praxis dieses viel zu früh verstorbenen Ausnahmekünstlers, dessen Arbeiten immer wieder mit einem Wort beschrieben werden: magisch.
Ich selbst bin über diese Magie gestolpert. 2022 auf der Venedig Biennale stand ich wie angewurzelt vor ihr, “Isis”, bestimmt für 30 Minuten und geflutet von unsortierten Emotionen. Es ist selten, dass das passiert. Ich konnte damals nicht erklären, was es war, was mich derart anzog. Meistens ist es das unbegreifliche Moment, das mich fesselt, und mich im Falle von “Isis” wirklich tief berührt hat. Ich will “Isis” wieder sehen, möchte begreifen oder mindestens nochmals fühlen was mich vor zwei Jahren in Venedig in den Bann zog. Endlich bietet sich die Gelegenheit.
Im Obergeschoss des Kunsthauses Minsk breitet “Isis” schützend ihre Flügel aus. Ihren zaghaften Blick aus dem Bild gerichtet hält sie die goldgelben Flügel über den Schultern fest, die sich wie große Fächer zum Boden entfalten. Die Flügel leuchten und umkränzen die Schwarze Frau, heiligen sie wie es ein Ganzkörper-Nimbus, eine Aureole in der christlichen Kunstgeschichte tut. Die Frau steht in einem Los Angeles-typischen Hinterhof, hinter ihr die weißen Latten der Hausfassade, neben ihr auf dem Boden liegt eine ausrangierte Klimaanlage und über ihrem Kopf ragt das Blätterdach eines Baumes hervor. In der rechten Bildecke leuchtet eine Lampe. Sie trägt eine Art Badeanzug. Wer ist diese Gottheit? Es ist Noah Davis Frau Karon Davis.

Davis stellt seine Frau als ägyptische Schutzherrscherin, Gottheit der Mutterschaft, der Geborgenheit dar, als eine Göttin im Hinterhof. Davis drückt den Respekt, die Liebe gegenüber seiner Frau aus. Er schafft in seiner milden Farbpalette und seiner Komposition eine Unaufgeregtheit, eine Ruhe und Melancholie, die das Bild eindringlich machen. Dem wirklich großartigen Begleitheft der Ausstellung ist zu entnehmen, dass diese Szene ihrem Alltag entnommen ist, Noah sah Karon im Badeanzug im Garten und rief “Stopp, du bist Isis!”. Was für eine Wucht in ihrem scheuen Blick liegt, im Kontrast zu den prunkvollen Flügen, die Davis schon in diesem flüchtigen Alltagsmoment visualisieren konnte. Vermutlich weil sie für ihn Schutz und Geborgenheit bedeutete. Mich haut es um, auch ein zweites Mal.
Das Obergeschoss des Minsk ist in violetter Wandfarbe gestrichen, eine zunächst irritierende kuratorische Entscheidung. Sie findet Erklärung in Davis’ einzigem erhaltenen abstrakten Werk “Nobody”. In demselben Violett bildet die Malerei die Form des Swing States Colorado ab. Swing States werden auch, weil nicht eindeutig demokratisch (blau) und nicht republikanisch (rot), auch “purple states” genannt. Davis’ Arbeit entstand 2008 im Jahr der Präsidentschaftswahl, bei der mit Barack Obama erstmals ein Schwarzer Kandidat zur Wahl stand und sie für sich entscheiden konnte. Colorado färbte sich mit dieser Wahl blau, das macht doch Hoffnung.

Als Künstler wollte der 2015 im Alter von 32 Jahren verstorbene Davis seine Schwarzen Protagonist*innen in ihrem Alltag zeigen, seine eigene persönliche Umgebung abbilden und sie mit seinem Wissen über die Kunstgeschichte anreichern. Dabei fing er Alltagsrassismus und Freizeitfreuden gleichermaßen ein, sie gehen Hand in Hand. Er thematisierte den Voyeurismus von in den 90er-Jahren beliebten Nachmittagstalkshows in denen oft Schwarze Personen belustigend vorgeführt wurden, während sie ihre privaten Konflikte vor der Kamera ausfochten.
Er fing die Überforderung von Müttern ein, ihre pure Verzweiflung die im Werk “Bad Boy Forever” zu familiärer Gewalt führt und sich, wie der Titel verrät, bleibend in das Kind einschreibt. Im Bereich des Mundes der schlagenden Mutter zeigt sich eine für Davis typische Technik; ihr Mund scheint zugeschmolzen zu einem Hautwulst. Davis verzerrte und verwischte stellenweise, verlieh Figuren eine starke Kontur, die an Manet erinnert, oder weichte Gesichtszüge und Proportionen auf. Er kombinierte das aus der Realität Gegriffene mit dem künstlerischen Eingriff. In diesem Fall stellt er die Mutter buchstäblich unmündig dar, das Kind, das über ihren Knien liegt, hingegen glänzt in goldener Farbe, die Silhouette stabil zusammengehalten von einer dunkle Konturlinie. Der eigentliche Bruch bleibt unsichtbar.

Davis’ Kunstwerke zeigen, wie Menschen baden, einen schwungvollen Köpper in einen Communitypool machen, an dem ausschließlich Schwarze Menschen zusammenkommen. Davis’ Realität und die von vielen anderen Schwarzen Personen, auch noch zu Davis’ Lebzeiten 30 Jahre nach dem offiziellen Ende der Segregation, war – und ist es auch heute 60 Jahre später noch zu häufig – , dass Weiße lieber auf private Pools auswichen, wenn in den öffentlichen Schwarze Menschen waren.
Das höchste Maß an Freiheit ist dann in den Werken spürbar, wenn die abgebildeten Schwarzen Menschen unter sich sind. Da scheinen sie am wenigsten zu befürchten zu haben, spielen ausgelassen, springen sorgenfrei in das Schwimmbecken. Es ist schön und traurig zugleich, diese fröhliche Stimmung zu sehen, denn sie scheint immer nur momentan zu sein, als könnte sie sich jederzeit verflüchtigen. Dieses von Davis eingefangene Glück hat immer eine Schattenseite, die auf die Kappe einer gespaltenen und von Rassismus durchdrungene Gesellschaft geht.

In Davis’ Werk “The Missing Link 1” Kinder spielen vor einem Haus. Eines von ihnen hebt mit ausgestreckten Armen ab wie Peter Pan. Die anderen bemerken es gar nicht, spielen unbeirrt weiter. Die Farben sind verwischt, keine Konturen oder Schatten halten die Figuren an ihrem Ort, verwischen Realität und Traum in jeder Hinsicht. “The Missing Link 1” ist Teil der gleichnamigen Serie, die in unterschiedlichen Szenarien zeigt, dass zwischen Traum und Realität Schwarzer Menschen immer noch etwas fehlt – vielleicht ist der “Missing Link” die zu oft fehlende Möglichkeit, die Träume zu verwirklichen.
Fasziniert und inspiriert von der Unmittelbarkeit von Fotografien, Schnappschüsse seiner Mutter oder von Fremden, deren Fotos er auf Flohmärkten fand, entwickelte Davis seine Kompositionen. Mit seiner Serie “1975” übersetzte er einst 40 Jahre alte, unentwickelte Filmrollen seiner Mutter auf großformatige Leinwände. Ein Lehrer liest etwas von einem Blatt Papier ab, ein Mann schläft auf der Rückbank eines Autos und immer wieder ist es die Schwimmbad-Szene. Die Farbe der Szenen ist teils so wässrig aufgetragen, dass sie Rinnsale auf der Haut der Dargestellten hinterlässt, sie hauchdünn, zerbrechlich, gar rissig erscheint und dann wieder ganz flächig und voller Konturen. Ein Spiel von Stabilität und Instabilität.

Trotz der sichtlichen künstlerischen Eingriffe, scheint jede Szene so pur, so nah an den Menschen. Ein anderes Mal lies Davis sechs Balletttänzerinnen im Pueblo del Rio, einer 1941 in Los Angeles für afroamerikanische Fabrikarbeiter:innen erbauten Sozialbausiedlung, tanzen. Die Schuhe der Tänzerinnen so stechend weiß, dass sie niemals gänzlich mit ihren Füßen oder der weichen Dämmerung der Szene verschmelzen können.
Die Kraft von Noah Davis’ Arbeiten liegt in der Normalität und in ihrer pointierten Verzerrung, in der Heroisierung derer, die ihren Alltag bewältigen, derer, die Auswirkungen der Kolonialgeschichte, politischer Entscheidungen, ob von heute oder damals, ertragen. Davis hat die gewürdigt, die trotzdem träumen. Und die, die sich wehren. In wenigen Tagen bibbert die demokratische Welt erneut, hofft, dass aus Violett Blau wird und 20 Jahre nach Obamas historischem Sieg nun mit Kamala Harris erstmals eine Schwarze Frau Präsidentin der USA wird. Colorado gilt in der laufenden Wahl nicht als Swing State, Colorado ist in diesem Jahr blau. Es besteht Hoffnung auf weniger “Missing Links”.
WANN: Die Noah Davis Retrospektive ist noch bis zum 5. Januar 2025 zu sehen.
WO: DAS MINSK Kunsthaus Potsdam, Max-Planck-Straße 17, 14473 Potsdam.