Neue Narrative
Überlegungen zur documenta 14

21. Juni 2017 • Text von

Hinter den Fassaden der Nachkriegsjahre, in der Nicht-Ästhetik von Fußgängerzonen und Ausfallstraßen versteckt, präsentiert die documenta 14 eine Welt, die aus dem Fugen geraten ist.

Banu Cennetoğlu: BEINGSAFEISSCARY, 2017. Verschiedene Materialien, Friedrichsplatz, Kassel, documenta 14, Copyright: Foto: Roman März.

Gegenwart ist das Gegenteil von Geschichte. Der Blick zurück erlaubt Kausalitäten zu erkennen, Bedeutung zuzuschreiben und zu resümieren. Nicht so, wenn sich unser Blick auf das Hier und Jetzt richtet: Wir sehen Widersprüche und sind unfähig eine globalisierte Welt in ihrer überfordernden Gleichzeitigkeit zu verstehen. Dieses Sentiment erkennt der künstlerische Leiter Adam Szymczyk in der Konzeption der Ausstellung an.

So ist die Ablehnung eines roten Fadens Ausdruck unserer Gegenwart. Dennoch verdichten sich die Bilder von Kassel am Ende des Tages zu einem Gesamteindruck: Die Kunst steht im Dienst des Narrativen, wobei es nicht um die Wiedergabe einer bestimmten Geschichte geht, sondern um das Erzählen an sich. Die Erkenntnis, dass ein eurozentrischer Blickwinkel die Bedeutungs- und Erklärungshoheit verloren hat, die ihm nie zugestanden hat, fordert eine Neu-Erzählung von bekannten Geschichten. Lineare Erklärungsmuster sind Vergangenheit. Bekannte Erzählungen werden umgeschrieben, verklärte Geschichten werden überschrieben und bislang unbekannte Schicksale aufgeschrieben.

Michel Auder: The Course of Empire, 2017. Vierzehnkanal-Digitalvideo-installation, Ehemaliger unterirdischer Bahnhof (KulturBahnhof), Kassel, documenta 14, Copyright: Foto: Jasper Kettner.

Am Anfang steht die Umschreibung. In der documenta Halle sind Schwarz-Weiß-Fotografien aus den sechziger Jahren hinter Glas ausgestellt. In ihrer Ästhetik ähneln die Aufnahmen moderner Tanzworkshops bekannten Bildern ihrer Zeit, doch beim genaueren Hinsehen fällt ein wesentliches Detail auf: Nicht nur weiße Körper bewegen sich auf der Bühne. Die amerikanische Künstlerin Anna Halpin gründete Mitte der Sechziger die erste Tanzgruppe in den USA, die Mitglieder unterschiedlicher Ethnien zusammenführte. Ihr Werk taucht in keiner einschlägigen Zusammenfassung der amerikanischer Kunst der Sechziger und Siebziger Jahre auf, für welche die Entwicklungen im modernen Tanz von zentraler Bedeutung waren. Seit Anfang der 1950er Jahre konzipiert Anna Halpin innovative Tanzstücke und veranstaltet therapeutische Bewegungsrituale. Inmitten eines Waldes in Kalifornien installierte sie eine Tanzbühne, welche auf die Kommunikation zwischen Körper und Umgebung ausgerichtet war. Kollektive Gemeinschaft, Interdisziplinarität und Improvisation sind die Eckpfeiler ihres Konzeptes des „instant theater“.

Theo Eshetu: Atlas Fractured, 2017. Auf Banner projiziertes Digital-Video, Farbe, Ton, Neue Neue Galerie (Neue Hauptpost), Kassel, documenta 14, Copyright: Foto: Mathias Völzke.

Es folgt die Überschreibung, die im Gegensatz zur Umschreibung über die Vervollständigung von bekannten Geschichten hinausgeht. In einem brutalistischen Hochhaus, welches neben der Neuen Neuen Galerie, einem der Hauptspielorte der documenta 14, auch das Fitness Studio McFit und die Deutsche Post beherbergt, dominiert ein überdimensionales Banner den Ausstellungsraum. Bis 2014 zierte es die Fassade des Ethnologischen Museums in Berlin-Dahlem. Darauf sind fünf Masken zu sehen, unter denen die fünf in der Sammlung des Museums vertretenen Regionen vermerkt sind: Afrika, Amerika, Ozenanien, Asien und Europa. Theo Eshetu konnte das Banner retten, bevor das Museum in das umstrittene Berliner Stadtschloss umzieht, und bespielt es auf der documenta mit einer Videoinstallation. Über die kubischen Skulpturen, welche vielerorts im Kunstunterricht immer noch als „Negerplastiken“ bezeichnet werden, legt er eine Vielzahl von Gesichtern. Der Reduzierung eines ganzen Kontinents auf ein stereotypes Bild stellt der in London geborene Künstler eine Vielzahl von Repräsentanten und Repräsentantinnen gegenüber.

Zuletzt folgt das Aufschreiben. Beispielsweise die Geschichte von Ernst Lorenz Böttner, der 1959 als Sohn deutscher Eltern in Chile geboren wurde. Im Alter von acht Jahren wurden ihm beide Arme bis zu Schulter amputiert, nachdem er einen Strommasten hinaufgeklettert war. Als Jugendlicher lebte Ernst Lorenz in der Nähe von Kassel, wo er wie viele sogenannte „Contergan-Kinder“ als Behinderter diffamiert wurde. Er lernte mit den Füßen zu malen, interessierte sich für klassisches Ballett und Stepptanz und hinterfragte im Rahmen seines Kunststudiums in Kassel die Kategorie „Behinderung“ und deren gesellschaftliche Ausgrenzung. Gleichzeitig begann der Künstler sich als Frau zu identifizieren und lebte unter dem Namen „Lorenza“ seine weibliche Transgender-Position in der BRD der 80er Jahre offen aus. Selbstporträts als Frau und Fotografien des Transformationsprozesses zeigen einen sinnlichen armlosen Körper voller Schönheit. In den Straßen von San Francisco malte Lorenza Bilder mit seinen Füßen und trat so mit einem unermesslichen Selbstbewusstsein nicht nur für die Anerkennung von Mund- und Fußmalerei in der Kunstgeschichte ein, sondern rebellierte auch gegen die Entsexualisierung des behinderten Körpers.

Pope.L: Whispering Campaign, 2016–2017. Nation, Volk, Stimmung, Sprache, Zeit
, Installationsansicht, Friedrichsplatz, Kassel, documenta 14, Copyright: Foto: Nils Klinger.

Die Singularität, der hier skizzierten künstlerischen Positionen, wiederholt sich in jeder beliebigen anderen Arbeit der documenta 14. Eine Annäherung an den Gesamteindruck, welchen diese Polyphonie von Schicksalen erzeugt, ist die Soundinstalltion von Pope.L: In mehreren Ausstellungsorten und im Stadtraum von Kassel  ist ein Flüstern zu hören: „Ignoranz ist eine Tugend“. Dieser Satz wird in verschiedenen Sprachen wie eine Litanei wiederholt. Das Werk besteht laut Wandetikett aus Nation, Volk, Stimmung, Sprache und Zeit und hat eine Dauer von 9.438 Stunden. Die Stärke der Ausstellung liegt darin, dass dieser zentrale Satz nicht wie eine Anschuldigung dem Besucher entgegen gebrüllt wird, sondern als eine feinfühlige Wahrheit in uns nachhallt.

WANN: Die documenta 14 ist bis zum 17. September 2017, täglich von 10–20 Uhr geöffnet.
WO: documenta 14, Friedrichsplatz, 34117 Kassel. Viele weitere Informationen hier.